Monuments Men
Saint-Michel, erkannte Rorimer schnell, »war der einzige Ort auf dem europäischen Festland, der unbewacht und unbeschädigt war und an dem alles wie gehabt weitergehen konnte ... Jeden Tag kamen mehr als tausend Soldaten [die Fronturlaub hatten], tranken so viel wie möglich und wurden dann, als die Wirkung einsetzte, übermütig und schlugen über die Stränge.« 75 In den Restaurants wurde das Essen knapp, und der Alkohol erst recht. Die Souvenirläden waren leer. Und obwohl sich angeblich ein britischer Brigadegeneral im örtlichen Hotel mit weiblicher Begleitung einquartiert hatte, konnte James Rorimer keinen einzigen Offizier finden, der in dieser Situation das Kommando hätte übernehmen können.
Nachdem er sich das Kloster und die alten Bauwerke angesehen, umherstreunende Soldaten aus historischen Stätten verscheucht und Türen mit Vorhängeschlössern gesichert hatte, aß Rorimer mit dem Bürgermeister zu Abend, dessen Souvenirladen einige Tage zuvor ausgeräumt worden war. Die Männer kamen überein, dass der Mont Saint-Michel, obwohl es auch Gegenargumente zuhauf gab, weiterhin zugänglich bleiben sollte. Die drei Monate waren eine lange Zeit gewesen, und mehr als 200 000 alliierte Soldaten waren verwundet oder getötet worden oder wurden vermisst. Der Gestank des Todes – Zivilisten, Soldaten, Kühe, Pferde – hatte sich in der Luft und im Wasser ausgebreitet und sich in der Nahrung und den Kleidern festgesetzt. Aber jetzt war es zu Ende, zumindest vorläufig. Die Schlacht um die Normandie war ein entscheidender, schwer erkämpfter Sieg der Alliierten, und ein Kulturgüterschutzoffizier konnte nicht viel tun, um die Soldaten vom Feiern abzuhalten. Als der müde Bürgermeister zu seiner Frau nach Hause gegangen war, begab sich Rorimer in eine Bar, legte die Stiefel auf den Tisch und dachte bei einem Bier über die Zukunft nach.
Die Normandie lag nun hinter ihnen, aber die eigentliche Arbeit begann erst. Er dachte an die deutschen Soldaten, die Kunstwerke aller Art in Fahrzeugen des Roten Kreuzes abtransportierten. Die Nazis hatten schreckliche Verbrechen begangen, davon war er überzeugt, und wenn er einen Beitrag dazu leisten wollte, der Kunstwelt wieder zu ihrem Recht zu verhelfen, dann musste er eine Möglichkeit finden, sich von der Comm Zone an die Front versetzen zu lassen. Irgendwo da draußen lagen die Beweise und warteten darauf, entdeckt zu werden. Und er war der Mann, der das tun würde. Der erste Schritt bestand darin, nach Paris zu fahren.
Am nächsten Morgen kam ein Militärpolizist der Luftwaffe zu Rorimer. Der Offizier wollte seine Papiere sehen. Diese Papiere bestätigten anscheinend seine Vermutungen, denn der Soldat lächelte, nickte und stellte den Monuments Man unter Arrest.
»Kein Offizier mit einem so niedrigen Rang besitzt Zuständigkeiten, die Sie beanspruchen«, sagte er. »Und kein Offizier, egal mit welchem Rang, würde ohne ein eigenes Fahrzeug reisen.« Auch die Offiziere im örtlichen Hauptquartier waren überzeugt, dass sie einen deutschen Spion aufgegriffen hatten. Der Militärpolizist freute sich und rechnete schon mit einer Beförderung und mit Belobigungen. Der junge Mann begleitete den »Spion« den ganzen Weg zurück zu Rorimers Hauptquartier, wo ihm dann die erschütternde Wahrheit mitgeteilt wurde: Es gab die MFAA tatsächlich, und Leutnant James Rorimer gehörte ihr an. Die Monuments Men mochten ihre ersten Monate in Europa als Erfolg betrachten, aber mit ihrer Mission hatten sie noch einen weiten Weg vor sich.
Brief von George Stout an seine Frau Margie, 27. August 1944 76
----
Liebe Margie,
ich habe einen Luftpost-Umschlag gefunden und kann daher ein wenig ausführlicher schreiben. Vor einer Woche bin ich im Hauptquartier gewesen und hatte die Möglichkeit, einen Brief zu schreiben. Mit etwas Glück werde ich morgen wieder dort sein und kann dir weitere Neuigkeiten mitteilen, Liebste.
Die Arbeit hat mich diese Woche stark in Anspruch genommen, war aber alles andere als deprimierend. Seit zwei Tagen bin ich in einer Stadt untergebracht, einer eher kleinen Stadt, und habe ein schönes Zimmer bei einer netten Familie ... Liebenswürdige Leute, ähnlich wie viele unserer Bekannten, und ich finde es beeindruckend, wie gering die Unterschiede zwischen zivilisierten Nationen sind.
Während die Front weiterzieht und immer wieder neue Tatsachen zutage kommen, mehren sich die Anklagepunkte gegen die Deutschen. Sie haben sich sehr schlecht benommen, in den
Weitere Kostenlose Bücher