Moonshine - Stadt der Dunkelheit
Augen.
Nach einer Weile lachte Lily nervös auf. »Und? Soll ich an nichts denken? Oder soll ich mir ein Feld mit Gänseblümchen vorstellen?«
»Versuchen Sie einfach nur, den Mund zu halten.«
Ich kaschierte mein Lachen mit einem Husten.
Oh, Aileen, ich liebe dich.
Nach einer Minute gespannten Schweigens wurde Lily unruhig, doch Aileen hielt ihre Hände offenbar fester, als es den Anschein hatte. Die Journalistin warf mir einen panischen Blick zu, ich zuckte jedoch nur die Achseln und lehnte mich zurück. Sie hatte es schließlich nicht anders gewollt. Uns blieb nichts anderes übrig, als uns die Show anzusehen.
»Es gefällt Ihnen nicht, aber Sie werden sich daran gewöhnen«, sagte Aileen mit einer atemlos und tief klingenden Stimme. Lily sah ohne jeden Zweifel verblüfft aus. »Ihresgleichen ist versöhnlicher und verständnisvoller, als Sie glauben, allerdings weniger versöhnlich als meinesgleichen. Sie lechzen nach Erfolg, doch Sie werden ihn nicht erreichen, wenn Sie nicht aufhören, so viel Wert darauf zu legen, was die anderen denken.« Und dann, in plötzlicher Panik: »Zephyr! Du musst ihn lassen!«
Aileen sackte in sich zusammen, sank gegen Lilys Brust und zitterte, als wäre sie eben aus der Kälte hereingekommen.
»Ist das Ihr Ernst?«, sagte Lily. »Was für eine Vorhersage war das denn? Das bedeutet überhaupt nichts!«
Ich konnte sehen, dass sie sich bemühte, Lässigkeit vorzutäuschen, was ihr jedoch nicht gelang. Sogar ich fühlte mich ein bisschen verwirrt. Dann betrachtete sie Aileen, die noch immer am ganzen Leib bebte, und legte ihr zögerlich einen Arm um die Schultern. »Na, na. Ist ja schon gut. Es ist vorbei, was auch immer es gewesen sein mag.«
Die alte Standuhr im Wohnzimmer begann zittrig zu schlagen und erschreckte uns alle drei.
Fluchend erhob ich mich. »Tut mir leid, Lily, ich kann nicht mit zu der Party gehen, ich komme jetzt schon zu spät zu ›Ausdruck und Stil‹ und ›Private Finanzen‹.«
Sie zog ein langes Gesicht, was mich sicherlich genauso misstrauisch gemacht hätte wie Aileen, wenn ich Zeit dazu gehabt hätte. Ich rannte die Treppe hinauf, um das Kursmaterial zu holen, doch als ich zurückkam, war Lily noch immer da.
Sie hielt den braunen Briefumschlag in der Hand. »Sie sollten sich das hier mal ansehen, Zephyr.«
Ihre Stimme war so untypisch ernst, dass ich trotz allem innehielt und ihr den Umschlag abnahm. Ich war sowieso zu spät, und ihre ängstliche, besorgte Miene gefiel mir überhaupt nicht.
In dem Umschlag befanden sich mehrere Fotografien. Sie waren erst kürzlich entwickelt worden, wie ich an dem chemischen Geruch feststellen konnte. Es waren Bilder aus einem schwach beleuchteten Raum in einer Lagerhalle.
»Kisten mit Kartons, Kisten mit Kartons, Kisten mit …
Harold Weisskopf und Sons Frankfurter?
« Ich blickte auf. »Ich soll mir die Fotos eines Hotdog-Lagers ansehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Schauen Sie einfach weiter.«
Genau das tat ich. Ich sah die Kartons mit den Hotdogs. Auf dem nächsten Bild hatte jemand einen der Kartons geöffnet. Darauf folgte eine Aufnahme vom Inhalt. In diesen großen Flaschen waren definitiv keine Frankfurter Würstchen. Illegaler Schnaps? Vermutlich. Auf einem weiteren Foto war eine der Flaschen offen. Die Flüssigkeit darin war dunkel und zäh – und auf dem Bild
fast
nicht von Rotwein zu unterscheiden, aber eben nur fast.
Ich blickte Lily an.
»Faust?«
, sagte ich. Aus Gründen, die ich nicht benennen konnte, zitterte meine Stimme.
Sie nickte. Ich brauchte ihre Aufforderung nicht mehr, um weiterzuschauen. Der Fotograf hatte noch ein paar Kartons mit Frankfurter Würstchen geöffnet, und in allen Kisten befanden sich Flaschen mit
Faust
. Ich kehrte zurück zum ersten Foto, auf dem der gesamte Raum zu sehen war: In dieser Lagerhalle mussten sich Hunderttausende von diesen Flaschen befinden.
»Der Neger«, flüsterte ich.
Jetzt senkte Lily den Blick, und ich griff automatisch zu den übrigen Bildern. Es waren noch zwei Fotos übrig. Die Aufnahme des Aufzugs kam mir bekannt vor, doch die Aufzüge der Firma
Otis
sahen sich sicherlich alle sehr ähnlich. Das letzte Bild ließ dann keinen Zweifel mehr daran, wo die Fotoserie entstanden war. Es war die Frontansicht einer Lagerhalle in der East Twenty-sixth Street. Ein kaputtes Vorhängeschloss hing an der Tür. Möglicherweise waren das sogar meine Fußabdrücke im Schnee?
Ich ließ mich abrupt auf die unterste Treppenstufe fallen und zwang mich
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