Moonshine - Stadt der Dunkelheit
solch faszinierenden Menschen zusammenleben, Zephyr«, scherzte Lily. »Obwohl ich nicht überzeugt davon bin, dass es hier sicher für uns ist. Ich glaube, Ihre Freundin hat die Schwindsucht.«
Aileens Haut war
wirklich
ungesund bleich. »Was ist das für eine Brühe?«, fragte ich Mrs. Brodsky.
»Ein traditionelles Moskauer Heilmittel für Stürme im Innern, im Verstand«, entgegnete sie.
In einem Anfall krankhafter Neugierde schnüffelte ich daran und musste würgen. Das Zeug sah tatsächlich besser aus, als es roch. »Widerstehe der bolschewistischen Tyrannei«, sagte ich, was Aileen und Lily in schallendes Gelächter und Mrs. Brodsky in einen wortgewaltigen Schwall Russisch ausbrechen ließ.
»Was ist passiert?«, fragte ich und setzte mich zu Aileen auf die Couch.
Sie seufzte. »Ich war auf der Straße und las, als mich eine der Visionen kalt erwischte. Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern.«
Ich legte einen Arm um sie. »Mrs. Brodsky«, sagte ich mit so fester Stimme, wie ich nur konnte. »Aileen geht es bald wieder gut, das verspreche ich. Aber ein Katermittelchen wird ihr nicht helfen.«
Mrs. Brodsky funkelte uns beide an und zuckte schließlich wie eine Mutter, die sich unendlich ausgenutzt fühlte, die Achseln. »Gut. Ihr werdet schon sehen, ob ich euch undankbaren Mädchen noch mal helfen werde.« Sie legte die Hände um den Mund. »Katya! Die Küche muss geputzt werden!«
Als Mrs. Brodsky aus dem Wohnzimmer verschwunden war, kam Lily vorsichtig näher.
»Was machen Sie überhaupt hier?«, fragte ich.
Sie legte einen braunen Briefumschlag auf den Boden neben zwei große Kisten von
Macy’s
und warf mir einen seltsam zögerlichen Blick zu. »Ja, also … Na ja, ich wurde zu einer Wahl- und Benefizveranstaltung von ›Beau Jimmy‹ ins
Waldorf
eingeladen und dachte, ich frage Sie, ob Sie mitkommen möchten!«
»Tatsächlich?«
»Na ja, ich war den ganzen Tag unterwegs … für Reportagen. Jedenfalls hatte ich keine Zeit, um nach Hause zurückzukehren. Also bin ich zu
Macy’s
rein – obwohl ich Kaufhäuser verabscheue –, habe dort die beiden einzigen anständigen Kleider von der Stange gekauft und sie mitgebracht. Sie können das Kleid haben, das mir nicht so gut gefällt.«
Aileen und ich wechselten einen Blick. »Das ist … sehr nett«, sagte ich und war mir nicht sicher, wie ich mit dieser Seite von Lily umgehen sollte.
»Sie sehen aus, als wollten Sie etwas«, bemerkte Aileen, diplomatisch wie immer.
Lily hob die Augenbrauen und betrachtete vielsagend die schäbigen Strickdecken, die sich Aileen um die Schultern geschlungen hatte. »Ich glaube, wir hatten noch nicht das Vergnügen«, sagte sie.
Ich seufzte. »Aileen – Lily. Darf ich vorstellen: wahrsagende Mitbewohnerin – aufstrebende Journalistin.«
»Ich habe mir schon gedacht, dass Sie das sein müssen. Also, was ist in dem Umschlag, Lily?«, fragte Aileen.
Die Journalistin lächelte schmallippig. »Was kümmert es Sie? Oder
spüren
Sie etwas?«
Aileen wurde rot, doch ihr Blick hätte einen Vampir pfählen können. »Machen Sie sich ruhig über mich lustig. Ich bezweifle, dass Sie die Eier haben, sich tatsächlich die Zukunft vorhersagen zu lassen.«
»Ich habe überhaupt keine
Eier
.« Lily gab ihr Bestes, um über ihre erhobene majestätische Nase hinweg auf Aileen herabzublicken, obwohl es nicht zu funktionieren schien. Sie wirkte eindeutig ein bisschen zu interessiert. »Sie wollen mir weismachen, dass Sie übernatürliche Kräfte besitzen? Ich muss Ihnen sagen, dass ich nicht naiv genug bin, um zu glauben, dass so etwas einfach mit dem Akzent einhergeht.«
»Sehen Sie selbst, wenn Sie es ertragen können.«
»Oh, nun machen Sie schon, bitte. Ich bin furchtbar neugierig.«
Mir gefiel der Ton ganz und gar nicht, doch die beiden wirkten gleichermaßen dickköpfig. Nichts, was ich tun konnte, würde eine der beiden zum Nachgeben bewegen können. Ich machte mir Sorgen um Aileen – Lily wusste es ja nicht besser –, denn ich sah, wie viel Kraft die Visionen sie kosteten und wie sehr sie meine Zimmergenossin überwältigten, wenn sie zu stark waren. Auf der Straße beschwor Aileen sie wenigstens nicht absichtlich herauf, aber für Lily würde sie mit Sicherheit so viel ihrer neu gewonnenen Seherkraft nutzen, wie sie besaß. Wir tauschten die Plätze, so dass Lily neben Aileen saß. Die nahm Lilys Hände und drehte sie mit den Handflächen nach oben, dann holte sie tief Luft und schloss die
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