Moonshine - Stadt der Dunkelheit
meiner Fragen den Kopf.
Ich sah Amir an, der die Augenbrauen zusammengezogen und die Lippen zu einer schmalen, blassen Linie aufeinandergepresst hatte.
»Meinst du, dass er sich noch an weitere Dinge erinnern wird?«, fragte ich zögerlich.
Plötzlich spürte ich eine heftige Hitzewelle, die von Amir ausging, und der Junge rannte durch die Fliegengittertür ins Innere des Zimmers. Drei Meter in weniger als einer Sekunde. Ich erschauderte.
»Judah«, rief ich in freundlichem, beschwichtigendem Singsang, als wollte ich eine verängstigte Katze von einem Baum locken. Ich folgte ihm durch die Tür ins Zimmer. »Es ist schon gut. Wir werden nicht …«
»Mama?«, sagte er.
Inmitten des Zimmers, in dem unzählige Kissen auf dem Boden verteilt waren, machte er auf dem Absatz kehrt, um mich anzusehen. Mit einem Mal verdrehte er die Augen und sackte auf den Boden. Amir und ich liefen zu ihm. Judahs Augen waren noch immer offen, obwohl ich nur das glühende Weiß erkennen konnte. Er zitterte leicht, allerdings nicht wie ein Mensch, der einen krampfartigen Anfall hatte. Dann sprach er mit einer kühlen Ruhe, die mich mehr beunruhigte als sein wildestes Knurren.
»Mama, Mama, können wir uns wieder die Schiffe ansehen? Ich verspreche dir auch, dass ich diesmal keine Angst haben werde. Ich weiß, dass es nur ein Nebelhorn ist, ich verspreche es.«
»Judah … Judah, was meinst du damit? Wer ist deine Mama? Was für Schiffe?«
»Dort gibt es auch kleine«, sagte Judah mit schwächer werdender Stimme. »Aber lass mich da bitte nicht allein …« Er schloss die Augen, und sein Körper entspannte sich, als er in einen tiefen Schlaf fiel.
Amir warf mir einen Blick zu, den ich nur als panisch deuten konnte. Also hob ich Judah allein hoch und legte ihn so gemütlich es ging auf die Kissen auf dem Boden des gegen das Tageslicht abgeschirmten Zimmers. Als ich wieder nach draußen trat, stand Amir an der Brüstung und hatte die Hände im Nacken verschränkt.
»Was meinst du, was das gewesen sein könnte?«, fragte ich und blieb in sicherem Abstand zu ihm stehen. Denn wenn er unter Stress stand, hatte Amir ein Problem damit, seine Hitze zu beherrschen.
»Verdammt, Zephyr, woher soll ich das wissen? Hast
du
vielleicht ein Handbuch für die Wiederherstellung von elfjährigen Vampiren? Ich scheine meines gerade verlegt zu haben.«
»Amir«, sagte ich, »würdest du freundlicherweise aufhören, dich wie ein Hochofen zu benehmen und mich anzusengen?«
Der Schimmer der Hitze, der seinen Körper umgab, wurde schwächer, dennoch wurde mir kaum kühler. Seine Iris glühten wie aufgehäufte Kohlen, die Schatten unterstrichen seine kraftvolle Wangen- und Kinnpartie. Seine graue Weste und das Hemd wirkten für mein plötzliches Verlangen nur wie Hindernisse. Ein außergewöhnliches, offenkundiges, demütigendes und definitiv
nicht angemessenes
Verlangen.
»Entschuldige«, sagte er und lenkte mich damit dankenswerterweise ab. Dann fuhr er sich mit den Fingern durchs Haar, wodurch sich noch mehr Strähnen lösten, die ihm in die Augen fielen. »Wie mein Bruder dir bestimmt nur zu gern erzählen würde, bin ich in dieser … Verantwortungssache nicht eben erfahren. Wobei ich finde, dass sie sowieso vollkommen überbewertet wird.«
Ich lächelte. »Du bist der Jüngste?«
»Ist das so offensichtlich? Nein, sag jetzt nichts.« Er blickte in das Zimmer, wo Judah schlief. »Meinst du, dass er sich an etwas erinnert hat? Vielleicht kann er uns, wenn er aufwacht, endlich das Geheimnis lüften und uns sagen, wer er ist.«
Ich nickte, doch ich war mir nicht sicher. Es war mir vorgekommen, als wäre er in einer Art Trance. »Wenn nicht, haben wir wenigstens einen Ort, an dem wir mit der Suche beginnen können«, sagte ich.
Er hob die Augenbrauen. »Schiffe. Mit Nebelhörnern.«
»Ich warte auf bessere Ideen, oh Feuriger.«
»Da kommt nichts.« Er seufzte. »Was sollen wir mit ihm machen?«
Ich überlegte. »Unbekümmert« hatte sein Bruder ihn genannt. »Ich frage mich, warum dir das so viel ausmacht. Irgendwie kommst du mir nicht gerade wie jemand vor, der sich normalerweise mit so etwas beschäftigt.«
Er runzelte die Stirn. »Mit
was
beschäftigt?«
»Damit, fürsorglich zu sein.«
»Ich mache mir eben Sorgen!«, erwiderte er empört. »Tatsächlich habe ich eure Welt immer ganz besonders gemocht.«
Ich dachte an sein Apartment, das überfüllt war mit unbezahlbaren Kunstgegenständen aus Dutzenden von unterschiedlichen Kulturen.
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