Moonshine - Stadt der Dunkelheit
als wäre ich eine Nachziehente für Kinder.
»Also«, sagte ich und bemühte mich, unbeeindruckt zu wirken, »wo sind wir?«
Am anderen Ende eines innen liegenden Gartens mit Geißblatt und unzähligen winzigen blühenden Rosen führte eine Tür zu einer Wendeltreppe.
Amir ging vor mir die Treppe hinauf. »Im Haus meines Bruders«, erwiderte er.
Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, also war schwer zu sagen, ob er absichtlich so ausweichend reagierte. »Ja, schon klar. Nur was für eine Adresse würde ich auf einen Briefumschlag schreiben? Verrückter-Hutmacher-Straße dreizehneinhalb, Wunderland? Die verstaubte Lampe in der Ecke des Pfandhauses?«
Amir hielt nicht an und stieg einfach weiter die Stufen hinauf, aber er lachte. Ich stolperte. »Shadukiam, die sagenumwobene Stadt der Rosen.«
Ich hatte diesen Namen schon einmal gehört – oder zumindest vor ein paar Jahren gelesen, als Daddy eine gekürzte Fassung von
Tausendundeine Nacht
als Versöhnungsgeschenk für Mama mitgebracht hatte.
»Leben alle Dschinn hier?«, fragte ich keuchend.
»Ich nicht.« Sein Tonfall war mit einem Mal eisig.
Ich wünschte, ich hätte ihn nicht gefragt. Trotzdem – ich dachte an sein luxuriöses, einsames Apartment und fragte mich, warum er es vorzog, dort zu leben, wenn
das hier
zur Wahl stand. Troy hatte mir einen Hinweis gegeben, warum Amir seine Kräfte bei dem Kampf mit dem Vampir in der vergangenen Nacht nicht genutzt hatte, doch das erklärte längst nicht alles. Die Phasen, in denen er entsetzliche Schmerzen ertragen musste, sein rätselhafter Rachefeldzug gegen Rinaldo … sein Interesse an mir. Passte das alles ins Bild? Amir hatte die Anzugjacke ausgezogen und die Krawatte gelöst, was alles in allem die ungekünstelte, lässige Schönheit dieses Mannes unterstrich. Ich hätte geseufzt, aber ich atmete ohnehin schon schwer, als ich die nicht enden wollende Treppe hinauftaumelte.
Was verheimlichte er alles vor mir? Ich wusste zwar, dass er gefährlich war, doch musste auch ich Angst haben? Seine Augen sagten nein – Daddy mahnt allerdings immer, dass man den Augen der
Anderen
nicht trauen darf. Nicht, wenn man am Leben bleiben will … oder ein Mensch.
Endlich erreichten wir das Ende der Treppe. Amir zog einen Schlüssel hervor und schloss die Tür auf, während ich mich an die Wand lehnte und den Kopf zwischen die Knie nahm.
»Dein Bruder …«, keuchte ich zwischen zwei Atemzügen, »sollte echt … über den Einbau eines Aufzugs nachdenken.«
Amir legte seine Hand auf meine Schulter und bot mir mit der anderen ein Glas Wasser an. Ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, woher das Wasser plötzlich kam, dennoch trank ich es dankbar aus.
»Aufzüge«, erklärte Amir, als ich mich wieder aufrichtete, »sind für eine Kreatur, die aus Rauch besteht, nicht sehr nützlich.«
»Dann ist die Treppe also nur … Dekoration?«
»Natürlich.«
Amir machte die Tür auf, und wir traten auf eine große, überdachte Veranda hinaus, von der man auf riesige Oliven- und Feigenhaine blickte. Ein Fluss, etwa drei Kilometer entfernt, begrenzte die gewaltigen Felder. Die Luft war schwer und duftete nach Erde und Früchten. Kaum vorstellbar, dass in New York gerade eisige minus sechs Grad und Schnee herrschten! Kardals Palast kam mir wie das Paradies vor.
Ich zog meinen Hut ab und den Mantel aus und stellte das Wasserglas auf die Balkonbrüstung. »Wo ist der Junge?«, fragte ich.
Ich hörte Schritte hinter mir. »Sag hallo zu Miss Hollis, Judah.«
Ich drehte mich um.
»Hallo, Miss Hollis«, sagte der Junge leise, aber deutlich.
Er hatte zu sich zurückgefunden.
Ich fuhr mir – verstohlen, wie ich hoffte – mit dem Handrücken über die Augen und kniete mich vor ihn in den Schatten vor einem abgeschirmten, sicheren Zimmer gleich am Balkon. »Hallo, Judah. Erinnerst du dich noch an mich?«
Seine großen braunen Augen glühten gefährlich, heller als bei jedem anderen Vampir, den ich je gesehen hatte – abgesehen von Nicholas von den
Turn Boys
. Bedächtig schüttelte er den Kopf. Die Bissspuren waren verheilt, ohne Narben zu hinterlassen, und seine Haut war totenbleich, doch seine Wangen waren verräterisch gerötet. Ich fragte mich, woher Amir das Blut hatte, um ihn zu füttern. Ob er es vielleicht genauso heraufbeschwören konnte wie ein Glas Wasser?
»Kennst du deinen vollständigen Namen, Judah? Weißt du, wer deine Eltern sind? Erinnerst du dich, wo du wohnst?« Schweigend schüttelte er auf jede
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