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Moor

Moor

Titel: Moor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunther Geltinger
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Abend zuvor gemacht, ob sie getrunken hatte. Sie fragte dich auch, was du getan hast und ob dir in letzter Zeit nichts aufgefallen sei. Ein neuer Mann, irgendeine unglückliche Liebesaffäre, warum sonst dieser plötzliche Kummer? Dann bohrte sie tiefer, mitten hinein in die Wunden; es war, so verloren und voll der drängenden Worte, wie du an ihrem Tisch hocktest, der richtige Zeitpunkt dafür. Sie verhörte dich regelrecht; wo der Wagen abgeblieben und warum Marga nicht mehr arbeiten gegangen sei; ob du überhaupt wüsstest, von welchem Verdienst ihr lebt? Sie benutzte tatsächlich dieses umständliche Wort, das sie auch noch besonders betonte und dabei die Stimme ein wenig senkte. Sie sah dein Schulterzucken und musterte dich tadelnd. Spricht sie wirklich nie über deinen Vater? Sie beugte sich vor und nahm deine Hand. Bete ab und zu für ihn, Dion! Du hast den Honig vom Becherboden gekratzt und schläfrig geblinzelt. Und heute Nacht, fügte sie mit einem Blick zum Kreuz hinzu, beten wir auch für deine Mutter!
    Sie atmete schwer aus, seufzte noch einmal mein armer Junge und drückte dich an sich; für einen Augenblick hörtest du ihr Herz in der Brust klopfen, zwei zähe, kaum zusammenhängende Schläge. Dann stand sie auf, räumte das Geschwirr weg, kehrte die Krümel von der Tischplatte in ihre Handfläche, schien einen Moment zu überlegen, wohin damit, und steckte die Faust schließlich in die Kitteltasche. Morgen wird alles schon ganz anders sein, versprach sie und schob dich die Treppe hoch. Die Stufen knarrten, das gleiche uralte Geräusch wie von den Dielen zu Hause, das dir oft weit nach Mitternacht Margas Kommen angekündigt hatte, manchmal schon als erstes Echo des Schlafs. Durch eine offen stehende Tür sahst du im Bett die Silhouette des Onkels, hörtest sein Schnarchen und fragtest dich, wie und wann er hereingekommen und ob er vorhin tatsächlich drüben im Haus gewesen war. Überhaupt erschienen dir die Geschehnisse, vielleicht vor Erschöpfung, verworren und widersinnig wie ein böser Traum.
    Als sie die Tür zu Hannes’ Zimmer öffnete, schlug dir der Schlafgeruch entgegen. Sie knipste das Licht an, es schmerzte in den Augen. Dein Cousin schlief in gekrümmter Haltung, verwickelt in die Bettdecke wie in einen Kokon, aus dem ein Bein herausstach. Du starrtest hin, blonder Flaum auf der Wade, eine Schürfwunde am Schienbein, wolltest rückwärts über die Schwelle, doch Marianne hielt dich fest und sagte: Keine Widerrede!, so herrisch und laut, dass Hannes erwachte. Aus den Tiefen des Schlafs heraus schien sein Blick tückisch und voll ungarer Pläne. Am Boden standen Pantoffeln, alte, ausgelatschte Schlurren, wie auch Karl Lambert sie trägt, du hattest Hannes’ Füße bisher nur in den Stallkloben, seinen eitel gepflegten weißen Turnschuhen oder nackt,mit vom Feuerruß geschwärzten Sohlen am Jummestrand gesehen, fandest die Vorstellung von den behausschuhten Quanten des Dorfhelden, der seiner Gefolgschaft aus pickligen Oberklässlern stets ein Stück vorausgeht, gleichermaßen beruhigend wie trostlos.
    Auch das Stofftier am Fußende, Bär oder Hund, passte nicht in das Bild eines Kerls, der die Stoppelkatzen in der Grube ersäuft. Vielleicht hatte den Teddy ja einer seiner Brüder hier vergessen, als der für den Älteren, der Anspruch auf Privatsphäre zu erheben begann, das gemeinsame Zimmer räumen musste, das dir jedoch groß genug für die geheimen Nachmittagsleben zweier Heranwachsender erschien, wie geschaffen für dich und ihn. Oder hast du das Kuscheltier selbst auf dem Bett platziert, später, in deinem Buch? Dort werden all diese Erinnerungen voller Details sein, und mit jedem neuen Blick darauf kommt ein weiteres hinzu. In diesem Moment aber muss alles, was der dreizehnjährige Junge sah, dessen Mutter man soeben ins Krankenhaus gebracht hatte, wüst und kahl gewesen sein, herausgerissen aus der Überfülle der Kindheit. Jeder Gang und Schritt, den du hier tust, ist eine Bewegung von später, angestoßen von deiner Stummheit, vom Stillstand bedroht und künstlich am Leben erhalten durch meine Stimme, den langen, kalt gewordenen Atem deiner Sehnsucht.
    Da fällt der Teddy auch schon vom Bett, raus aus dem Bild. Hannes dreht sich maulend zur Wand. Geh runter auf die Couch, sagt Marianne und schlägt die Bettdecke zurück. Weil der Schlafanzug auf dem Bauch ihres Sohnes verrutscht ist und Haariges entblößt, blickt sie zu Boden, der Junge an ihrer Hand jedoch direkt hinein in das

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