Moorehawke 01 - Schattenpfade
Wynters Herz schmolz dahin.
»Gern.« Lass es mich ohne Tränen durchhalten, betete sie, dann öffnete sie den Mund und sang. Sie wusste, dass das eine der Lieblingshymnen ihrer Mutter gewesen war. Sie kündete von Gottes Liebe für alle Lebewesen und von seinem Verständnis für ihre Not. Sie sprach von Trost in der schwärzesten Stunde und von der Ruhe und Freude, die selbst nach dem schlimmsten Sturm zurückkehrten. Es war ein Lied, das Lorcan sehr zu Herzen ging, und Wynter legte all ihre Gefühle hinein. Sie schloss die Augen, um alles außer der Musik auszusperren, öffnete ihre Kehle weit, um nichts zurückzuhalten.
Als sie am Ende des Liedes die Augen wieder aufschlug, fand sie die Blicke aller drei Männer zärtlich auf sich gerichtet.
»Du solltest öfter singen«, murmelte Christopher.
Ein Weilchen zogen sich alle wieder in eine trauliche Stille zurück und betrachteten das Feuer. Wynter hatte Niedergeschlagenheit und Kummer befürchtet, doch es war einfach nur eine Rückkehr zu der sanften Ruhe von vorher – jeder fühlte sich geborgen, glücklich und sicher bei denen, die er liebte.
Lorcan rutschte auf seinem Sessel herum, und Wynter warf ihm einen Blick zu.
»Vater?«, fragte sie besorgt und setzte sich auf.
Er hatte eine Hand über das Gesicht gelegt. Sie konnte sehen, dass seine Finger zitterten und die Lippen – nur schemenhaft
im Schatten seiner Hand zu erkennen – zu einem dünnen Strich verzogen waren.
Geschmeidig stand Christopher auf. »Möchtet Ihr Euch hinlegen, Lorcan?«
»Ja«, flüsterte er, und Christopher bedachte die anderen mit einem eindringlichen Blick.
Obwohl Wynter einen kleinen Eifersuchtsstich verspürte, erhoben sie und Razi sich gehorsam. Sie schoben die Kissen an die Wand und stellten das Teegeschirr auf den Tisch, bevor sie sich in den Gemeinschaftsraum begaben, um dort zu warten.
Dort setzten sie sich im schwachen Kerzenschein an den runden Tisch und lauschten, wie Christopher Lorcan behutsam zu Bett brachte.
»Was wird er nur ohne ihn anfangen?«, fragte Wynter. Was werde ich nur ohne ihn anfangen?
»Tutti ist ein guter Mensch, Schwester. Er war schon in Nordafrika bei mir. Ohne ihn wäre St. James’ Tod viel … viel schwerer für den armen Mann gewesen.«
Wynter musterte Razi, sein von der Auseinandersetzung mit dem König gezeichnetes Gesicht wirkte in dem weichen Licht nachdenklich und traurig. Die goldenen Sprenkel in seinen Augen strahlten, als er ins Kerzenlicht blickte. St. James war ihm ein ganz besonderer Freund und Beschützer gewesen. Bereits mit acht Jahren hatte man Razi bei ihm in die Lehre gegeben, den Großteil seines Lebens hatte er von ihm gelernt.
»Was ist mit ihm geschehen, Razi?«
»Er starb an Krebs, glaube ich. Ein sehr langsamer Tod. Es war … furchtbar.«
»Das tut mir leid, Razi.«
Er hob lächelnd den Kopf. »Ja. Danke.« Zärtlich ließ er den Blick auf ihr ruhen. »Marcello wird Sorge tragen, dass
dein Vater gut gepflegt wird. Du brauchst nichts zu tun, au ßer ihn zu lieben und für ihn da zu sein, wenn …« Er stockte und wandte die Augen ab, die nüchterne Zurückhaltung des Arztes verließ ihn beim Gedanken an Lorcans unausweichlichen Verfall. »Du kannst bis zum Ende seine Tochter bleiben, und er wird nicht ertragen müssen, dass du zu seiner Krankenpflegerin wirst. Ich bin froh, dass ich das für dich tun kann … Es bricht mir das Herz, dass ich ihn verlassen muss, Wynter. Ich … Mein einziger Trost ist, dass er dich an seiner Seite haben wird.«
Wynter spürte die sorgsam um ihre Gefühle errichteten Mauern bröckeln. Sie schloss die Augen. Alle würden ihn verlassen. Ihr Vater wäre allein – ganz allein am Ende. Sie legte den Kopf in die Hände. Wie konnte sie das tun? Wie? In diesem Moment glaubte sie nicht mal, dass sie körperlich dazu in der Lage wäre.
Durch die Finger hindurch bemerkte sie eine Bewegung vor sich: Razi kniete zu ihren Füßen. Als sie ihn anblickte, strich er ihr das Haar aus dem Gesicht. »Keine Tränen«, bat er. »Nicht heute Nacht, bitte.«
Sie nickte. »Keine Tränen«, stimmte sie zu und atmete tief durch.
Da ging Lorcans Tür auf, und Christopher spähte heraus. Sie standen auf und traten leise zu ihm.
»Er schläft wie ein Stein«, flüsterte Christopher.
»Chris«, sagte Razi. »Du musst dich morgen sehr früh bereithalten. Ich traue meinem Vater immer noch nicht. Er könnte versuchen, deine Abreise zu verhindern.« Christopher nickte, sein Blick wanderte zu Wynter.
Razi
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