Moorehawke 01 - Schattenpfade
Moorehawke. Ihr müsst mich mit meinem korrekten Titel ansprechen.«
Er wartete das erschrockene Schweigen ab und nickte dann, als Lorcan flüsterte: »Sehr wohl … Eure Hoheit. Ich bitte um Vergebung.«
»Ja, ich bin auf dem Weg zum Bankett. Warum fragt Ihr?«
»Ich hatte gehofft, Ihr würdet vielleicht meine Tochter dorthin geleiten, Hoheit. Sie ist unerfahren in den Umgangsformen des königlichen Podests, und ich dachte …«
Razi hob eine Hand, um ihn zu unterbrechen. Er stand schon halb im Dämmerlicht des Nebenzimmers, als er sagte: »Haltet Euch in Kürze bereit, Hohe Protektorin. Ich werde nicht warten.« Dann ging er.
Einen Augenblick verharrten alle sprachlos, dann seufzte Christopher. »Tja«, sagte er still. »Jetzt wisst Ihr’s, Lorcan.«
Lorcan verzog den Mund zu einem traurigen Lächeln. »Ja. Jetzt weiß ich’s.«
Nach kurzem Zögern zog Wynter Razis Brief aus dem Ausschnitt und gab ihn Lorcan, der ihn stumm und mit angespannten Gesichtszügen las.
»Was ist das?«, wollte Christopher wissen.
Lorcan holte mit einem Blick Wynters Erlaubnis ein. »Kannst du lesen?«, fragte er dann freundlich.
»Ja.«
»Hier.« Lorcan beugte sich vor und gab Christopher den Brief.
Er nahm ihn entgegen, drehte ihn hin und her, zog ihn näher heran und hielt ihn dann wieder auf Armeslänge, legte den Kopf mit einer schmerzlichen Grimasse schief und fand endlich eine Haltung, in der er die Schrift erkennen konnte. Er las langsam, die Lippen bewegten sich mit. »O nein«, sagte er dann. »Armer Razi.«
»Wir sind eine Gefahr für ihn«, sagte Wynter.
»Ach, Wyn«, seufzte ihr Vater und nahm ihre Hand. »Das ist es nicht, meine Kleine.«
»Er glaubt, er wäre eine Gefahr für uns …«, raunte Christopher.
»Genau«, stimmte Lorcan bedächtig zu.
»Aber je näher wir ihm sind, desto verletzlicher ist er«, beharrte sie.
»Das stimmt. Jonathon muss Christopher nur einen flüchtigen
Blick zuwerfen oder einer seiner Soldaten dich, mein Liebling, höhnisch angrinsen. Und schon hat Razi keine andere Wahl, als sich auf den Rücken zu legen und seinen Bauch darzubieten.«
»Der arme Teufel«, murmelte Christopher abwesend, und Lorcan verzog nicht einmal das Gesicht bei diesem Ausdruck.
Da traf Wynter eine jähe Erkenntnis. »Jonathon wird dich niemals gehen lassen«, sagte sie zu Christopher.
»Sie hat Recht, Junge«, bestätigte Lorcan. »Du bist sein bestes Druckmittel auf Razi. Jonathon wird versuchen, dich so lange wie möglich hier festzuhalten.«
»Bei Frith!«, hauchte Christopher. Er sah von Lorcan zu Wynter, und beide erwiderten seinen Blick mit demselben Mitleid in den Augen. Er wusste genau, was sie dachten. Wer ist jetzt der arme Teufel?
Frei zu gehen
E ine wohltuend kühle Morgendämmerung empfing Wynter, als sie am nächsten Tag erwachte. Durch das Fenster wehte grauer Dunst herein. Es tat nach der unbarmherzigen Hitze so gut, dass sie die Arme ausbreitete und sich daran erfreute. Doch es würde nicht von Dauer sein; der diesige Himmel färbte sich durch die aufgehende Sonne schon wieder rosig, und Wynter wusste, dass die angenehme Kühle innerhalb des nächsten Viertels einem weiteren glühend hei ßen Tag weichen würde.
Wie aus großer Höhe stürzten die Sorgen der letzten Tage auf sie herab und drückten schwer auf ihre Brust, schnürten ihr das Herz zusammen. Stöhnend drehte sie sich auf die Seite und vergrub das Gesicht in der Armbeuge. Warum hatte sie aufwachen müssen? Der Schlaf war selig und traumlos gewesen, und sie wollte ihn zurückhaben. Sie schloss die Augen und versuchte, wieder unter die Oberfläche ihrer Gedanken zu tauchen, versuchte, wieder in den Strom unschuldigen Vergessens hinabzuschweben.
Doch ihr Geist reiste zurück zu dem Bankett des vergangenen Abends. Was für ein Alptraum es gewesen war – das endlose Zeremoniell, die unausgesetzten, von Flüstern begleiteten prüfenden Blicke der unaufrichtig fröhlichen Menge. Wohin man auch sah, ragten die Soldaten des Königs wie
eine bedrohliche Mauer auf … und Razi! Himmel, Razi! Kalt, fremd, unerreichbar. Auf dem Hin- und Rückweg hatte er außer den Sätzen, die für das höfische Zeremoniell unbedingt erforderlich waren, kein Wort für sie übrig gehabt. Als sie erst im Hauptgang waren, hatte er nicht einmal mehr in ihre Richtung geblickt, wenn er ihr nicht gerade den Weg wies oder ihr zu verstehen gab, wen sie zuerst zu begrüßen hatte.
Selbst während des nicht enden wollenden Tanzes nach dem Mahl hatte
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