Moorehawke 01 - Schattenpfade
Spuren von Jonathons Übergriff entdeckte.
Wynter wusste, dass Lorcan ein praktisch denkender, oft auch berechnender und manchmal rücksichtsloser Mann war, doch beim Anblick von Christophers entstelltem Gesicht stieg eine beinahe greifbare Wut in seine Augen.
»Gütiger Himmel, Junge. Bist du sicher, dass du …«
Christopher winkte ab und ließ sich behutsam auf der Bettkante nieder. Unbeholfen verdrehte er den Körper, um Lorcan anzusehen, ohne den Nacken zu bewegen. »Rutscht mal ein Stück«, flüsterte er, und Lorcan machte ihm Platz.
Wynter lehnte Christophers Kissen an das Fußende, und er hielt die Luft an und hievte sich dann vorsichtig aufs Bett. Langsam schob er sich weiter, bis er Lorcan gegenübersaß, und ließ sich schließlich mit einem zittrigen Seufzer gegen sein Kissen sinken. Sehr lange saß er einfach nur da – starr und regungslos, die Lider geschlossen.
Atemlos und mit geballten Fäusten hatte Wynter die ganze Prozedur verfolgt. Über Christophers dunklen Schopf hinweg
wechselte sie Blicke mit Lorcan, dessen Augen die Opiumflasche fixierten. »Ich mische dir jetzt einen Trank«, sagte sie und tätschelte Christophers Schulter.
»Das wäre wunderbar«, flüsterte er. Dann setzte er sich bedächtig etwas auf und schielte zu Lorcan. »W-was spielen wir denn?« Lorcan zögerte, und Christopher winkte ihm zu. »Kommt schon … Was ist das? F-französisches Blatt?«
»Ja.« Lorcan hielt die Karten mit den Bildern hoch. »Wie wäre es mit ein oder zwei Runden Piquet?«, schlug er vor.
Christopher machte eine vage Geste. »Dann müssten wir Karten aussortieren.« Die beiden Männer sahen einander an. Wie müde Steine blieben sie sitzen, keiner war munter genug, um anzufangen.
Jetzt reichte Wynter Christopher den Becher mit der verdünnten Tinktur. »Das Aussortieren kann ich ja übernehmen, aber ihr müsst euch bald entscheiden, weil ich mich für das Festmahl umziehen muss.«
Bedächtig leerte Christopher den Trank. Wynter legte einen Finger unter den Boden des Gefäßes, um es gerade zu halten, während er mit steifem Nacken den Kopf zurücklehnte und trank. Dann nahm sie ihm den leeren Becher ab, und er wischte sich zufrieden den Mund ab. »Lasst uns Noddy spielen«, keuchte er schließlich, und Lorcan grunzte zustimmend.
»Dann also Noddy. Ihr fangt an«, lallte der ältere Mann, teilte jedem zwei Karten aus und drehte die oberste Karte des Stapels um.
Wynter schüttelte den Kopf. Die beiden schielten angestrengt auf ihre Blätter, kaum in der Lage, die Farben zu unterscheiden, geschweige denn, ihre Punkte auszurechnen. »Gott bewahre«, murmelte sie und ging in ihre Kammer, um sich umzuziehen.
Während sie sich für das Bankett zurechtmachte, kam das
Gespräch nebenan immer stetiger in Gang, und als sie fertig angekleidet war, fand bereits ein anhaltender, wenn auch recht einsilbiger Austausch zwischen den Männern statt.
Der Abend brach herein. Schon bald müsste sie ihre heimelige Kammer verlassen. Sie schloss die Augen. Verdammt. Seufzend setzte sie sich auf ihr Bett. Verdammt. Legte sich schräg über die Decke und ließ den Kopf auf der anderen Seite herunterhängen. Verdammt.
Von hier aus konnte sie – verkehrt herum – durch das Fenster hinaussehen. Die zahllosen Sterne strahlten schon hell, obwohl der Himmel noch von einem dunklen Blau war. Im Orangenhain sangen die Grillen.
Razis heimliche Nachricht hatte sich Wynter in das Mieder ihres Kleides gesteckt, sie knisterte leise über ihrem Herzen. Verzeih, verzeih . Das war ja alles schön und gut – aber was erwartete er von ihr, wenn sie sich das nächste Mal begegneten? Sollte sie ihn etwa – selbst wenn sie sich nicht unter den Augen der Öffentlichkeit befanden – mit »Eure Hoheit Prinz Razi« ansprechen und sich verbeugen wie irgendein dahergelaufener Höfling? Oberflächliche Konversation machen? Ihren Schmerz herunterschlucken, wenn er, ohne sie eines Blickes zu würdigen, an ihr vorbeirauschte?
Sie wusste, was sie gern tun würde , wenn sie ihn das nächste Mal traf, und das hatte reichlich wenig mit schwesterlicher Hingabe zu tun. Mit grimmiger Genugtuung malte sie sich das Geräusch aus, das ihre Reitstiefel machen würden, wenn sie auf seinen störrischen Allerwertesten träfen.
Doch diesen Zorn aus Selbstschutz konnte sie nicht lange aufrechterhalten, und je länger sie auf ihrem Bett lag, desto wahrscheinlicher würde er sich in gefühlsseliges Selbstmitleid verwandeln. Mit einem Ruck schnellte sie
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