Moorseelen
zum blauen Himmel hinauf und sog scharf die Luft ein. Auf mich wirkte sie um Beherrschung bemüht.
»Urs«, sagte sie und klang nun ausgesprochen liebenswürdig. »Du gehörst hierher. Zur Oase und zu uns. Egal, was geschehen ist.« Bei diesen Worten legte Deva freundschaftlich die Hand auf Urs’ breiten Unterarm. Der nickte und sah Deva demütig an. »Aber du musst Verantwortung übernehmen. Für dein Tun – und die Folgen.« Wieder nickte Urs gehorsam. »Aber keine Angst«, sagte Deva freundlich. »Wir werden dir helfen!«
Urs’ Erwiderung konnte ich nicht mehr hören, denn er hatte Devas Rollstuhl während des Gesprächs langsam zum Ausgang des Gartens geschoben und gleich darauf waren sie aus meinem Blickfeld verschwunden. Auch die Sonne machte nun Feierabend und die Hitze des Tages wich langsam einer feuchtkühlen Abendluft, die den Geruch von frisch gemähtem Gras und dem Wasser der Fließe herübertrug. Ich richtete mich aus der Hocke auf, in der ich verharrt hatte, und schüttelte meine Beine, die von der unbequemen Haltung kribbelten. Ich wusste nicht, was ich von der Sache halten sollte. Urs hatte gewirkt wie ein Hund, der eigentlich Schläge verdient hat, stattdessen aber ein nettes Wort zu hören kriegt. Und Deva? Die hatte in einem merkwürdig salbungsvollen Tonfall mit ihm geredet, als wäre Urs schwachsinnig oder so was. Aber vielleicht war der große Typ ja tatsächlich etwas langsam – und seelisch angeknackst dazu. Immerhin hatte er damals, ehe Zeno dazwischengegangen war, von der Brücke springen wollen. Unter Umständen war Urs immer noch ziemlich labil und man musste vorsichtig sein, mit dem, was man sagte. Aber was hatte der plumpe Junge getan, für das er Verantwortung übernehmen sollte – und weswegen er so durch den Wind war?
In dem Moment fiel mir Nicks Behauptung ein, Lukas habe fasten
müssen
, weil er mir unerlaubt Süßigkeiten zugesteckt hatte. Vielleicht hätte Urs auch nichts essen dürfen und hatte in der Küche hemmungslos zugeschlagen? Bei dem Bild dieses Schwergewichts, das sich durch rohes Gemüse und den faden Porridge futterte, musste ich unwillkürlich grinsen. Kein Wunder, wenn ihm das auf den Magen geschlagen war. Und nun war er unglücklich, weil er vor Deva und seinem Idol Zeno versagt hatte. Ich konnte den kleinen Teufel in meinem Inneren nicht daran hindern, hämisch zu grinsen. Je mehr ich allerdings über den Vorfall nachdachte, während ich langsam wieder Richtung Oase schlenderte, desto stärker machte sich ein anderes Gefühl in mir breit: Zweifel. Sollte tatsächlich etwas so Banales wie Essen – und wäre es auch verboten gewesen – der Auslöser für Urs’ Zustand gewesen sein? Erneut sah ich den aufgelösten Jungen vor mir. Aber was hatte der Typ mit den traurigen Hamsterbacken so Schlimmes angestellt? Und dann stand plötzlich die Antwort in Leuchtbuchstaben vor meinem inneren Auge: Mia! Also doch!
Wäre ich ein Zug gewesen, dessen Notbremse gerade gezogen worden war, ich hätte nicht abrupter stehen bleiben können. In meinem Kopf klangen Zenos Worte von heute Morgen nach: »Ich war mit Urs am See und habe nach Mia gesucht …«, hatte er gesagt und geschworen, dass von ihr dort keine Spur gewesen war. Aber was, wenn das nicht stimmte? Was, wenn Urs sie umgebracht und das tote Mädchen danach hatte verschwinden lassen? Und nun plagte ihn sein Gewissen und zwang ihn, vor Deva Farbe zu bekennen. Jetzt wurde
mir
schlecht. Deckte Deva einen Mörder? Und wusste Zeno davon? Ich spürte, wie ich bei diesem Gedanken heftig den Kopf schüttelte. Nein, das konnte nicht sein. So weit würden Zeno und seine Mutter nie gehen. Und überhaupt: Inzwischen war ich mir doch sicher, Mias Leiche im See wäre nur ein Produkt meiner überreizten Fantasie gewesen? Wieso konnte Urs dann jemand umgebracht haben, der gar nicht tot war? Vielleicht sah ich selbst schon überall Gespenster.
Immer wirrer kreisten die Gedanken in meinem Kopf, als säße ich in einem Jahrmarktkarussell, das sich immer schneller und schneller drehte. Ich musste wohl ins Taumeln geraten sein, denn auf einmal spürte ich zwei Arme, die mich auffingen. Noch ehe ich erkannte, wer es war, nahm meine Nase den vertrauten Geruch von frisch gewaschenen Klamotten und einem ganz eigenen Duft wahr, den ich schon während einigen – für meinen Geschmack viel zu seltenen – Umarmungen gerochen hatte. Mein Körper reagierte sofort und schmiegte sich an den Mann, um den meine Gedanken die ganze Zeit
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