Moorseelen
ihm im Auto entgegenkam, weil ich gerade meine Schicht im Krankenhaus beendet hatte. Als ich wieder zu mir gekommen bin, war die Feuerwehr gerade dabei, mich aus dem Wrack zu schneiden«, sagte sie ruhig.
Ich konnte sie nur stumm anstaunen. Wie konnte sie so cool davon erzählen?
»Der Fahrer wurde doch hoffentlich zu ein paar Jahren verknackt, oder?«, brachte ich nur heraus.
Ein leichtes Lächeln umspielte Devas Mund, aber es lag keine Fröhlichkeit darin. »Fahrerflucht. Man hat ihn nicht gefunden«, meinte sie knapp.
»Oh shit«, rutschte mir raus. Die arme Frau! Erst wurde sie halb tot gefahren und dann musste nicht mal jemand dafür büßen!
Deva nickte. »Ja, so dachte ich am Anfang auch. Es war ganz schön hart, plötzlich nicht mehr laufen zu können. Meine Arbeit im Krankenhaus, meine Patienten, meine Hobbys … alles musste ich aufgeben. Inzwischen kann ich wenigstens hier in der Oase praktizieren, wenn jemand krank ist. Aber ich habe oft Schmerzen und bin erschöpft. Ich werde nie wieder normal arbeiten«, sagte sie. Während ich mich noch über ihren sachlichen Ton wunderte, überzog ein strahlendes Lächeln ihr Gesicht. »Ich habe viel verloren. Aber ich habe noch mehr zurückbekommen«, sagte sie. »Ein neues Zuhause und junge Menschen, die für mich wie eigene Kinder sind.« Als wollte sie ihre Worte unterstreichen, legte sie mir liebevoll die Hand auf die Wange und blickte mich an.
Ich musste ein Gähnen unterdrücken, denn ich war auf einmal ziemlich müde.
Mit schweren Lidern betrachtete ich Deva, die mich immer noch unverwandt ansah, ehe sie ernst sagte: »Wenn Zeno nicht gewesen wäre, ich wäre wohl in den ersten Wochen nach dem Unfall völlig verzweifelt.«
Schon wieder Zeno, der einen Menschen rettete, dachte ich flüchtig. Aber ehe ich den Gedanken weiterdenken konnte, versank er in grauem Nebel. Die Erschöpfung war mit einem Schlag so stark, dass ich kaum noch auf meinem Stuhl sitzen konnte. »Sorry, Deva …«, gähnte ich und schämte mich für meine Unhöflichkeit, mitten in ihrem Satz den Mund aufzureißen wie ein müdes Nilpferd.
»Schon in Ordnung, Herzchen, geh schlafen, du bist noch nicht wirklich wiederhergestellt«, beschwichtigte sie mich.
Ich wollte nicken, da merkte ich, dass mein Kopf irgendwie komisch auf meinem Hals saß. Fast meinte ich, dort wäre ein Scharnier statt meiner Wirbelsäule. Am liebsten hätte ich Deva gefragt, ob sie dieses Gefühl auch kannte, aber meine Zunge schien mir nicht mehr zu gehorchen, sondern fühlte sich an, als hätte ich eine Betäubungsspritze beim Zahnarzt bekommen. Ich wollte etwas sagen, doch heraus kam nur ein Lallen.
»Du bist ja völlig fertig. Komm, ich bringe dich ins Bett«, sagte Zenos Mutter, nahm mich bei der Hand und setzte ihren Rollstuhl in Bewegung.
Mechanisch setzte ich ein Bein vor das andere und lief neben den sich drehenden Rädern her. Ehe ich aufs Bett fiel, dachte ich noch, das Gefühl, auf Watte zu gehen und eine Zunge zu haben, die mir nicht mehr gehorchte, konnten unmöglich etwas mit meinen Kopfschmerzen zu tun haben. Sofort schwammen diese Gedanken aber wieder davon wie Fische, wenn man die Hand ins Wasser tauchte. Vor meinem inneren Auge sah ich eine Sandburg am Strand, die von der Flut weggespült wurde. Jetzt konnte ich sogar die Wellen spüren, die auf mich zurollten, mich mit sich trugen bis zum Horizont, an dem eine blutrote Sonne stand, die mich an eine Orange denken ließ …
Der Saft!
, schoss es mir auf einmal durch den Kopf. Hatte er am Ende irgendein Schlafmittel enthalten? Hatte er deshalb so geschmeckt? Das Letzte, was ich dachte, war das Wort »bitter«. Im selben Moment kam die Lawine des Schlafes und begrub mich unter Dunkelheit und Vergessen.
*
Frustriert hockte Nick auf dem trockenen Boden und kratzte mit einem Stöckchen sinnlose Muster in den Staub. Dieser Zeno ging ihm gewaltig auf den Geist mit seiner großkotzigen Art. Er hatte Nick vorhin weggescheucht wie eine lästige Fliege, um sich dann Feline zu krallen und sie wahrscheinlich wieder einzuwickeln. Für seinen Geschmack ließ Zeno gewaltig raushängen, dass er den Durchblick hatte. Feline schien Mister Pferdeschwanz ja nach wie vor ganz toll zu finden. Nick hatte sie beobachtet und ganz genau die Blicke registriert, die sie Zeno zuwarf, wenn sie sich unbeobachtet fühlte. Allerdings glotzten fast alle ihn so an, egal ob Mädchen oder Jungs. Fast so, als würden sie ihn anbeten, dachte Nick angewidert. Das wäre ihm egal
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