Morbus Konstantin: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
wohl die entsetzlichste gewesen. Allerdings hatte er auch schon Männer gesehen, denen man den Kopf mit einem Kaminbock eingeschlagen hatte, sowie einige durchgeschnittene Kehlen und Menschen, deren Gesichter in den letzten Grimassen eines Vergiftungstodes erstarrt waren.
Im Vergleich dazu erschütterte der Anblick der toten Frau auf dem Tisch ihn nur wenig. Sie war jung, hatte rotes Haar und Haut weiß wie Milch, und sie war nackt. Der letzte Punkt hätte ihm peinlich sein können, doch Pimm hatte schon vor lange Zeit gelernt, die Toten klinisch zu betrachten. Ihre Seelen waren fort und ihre Körper nur noch leere Hüllen. Sie verdienten zwar Respekt, bedurften aber nicht länger der Höflichkeiten, die er ihnen zu Lebzeiten hätte angedeihen lassen. Er zog instinktiv sein Taschentuch heraus, um es sich vor die Nase zu halten, doch die Leiche roch fast gar nicht. „Wie lange ist sie schon tot, Mr. Adams?“
„Sie wurde heute Morgen gefunden, auf einer Haustreppe in der St. James’s Street.“
Pimm knurrte. „Mein Club ist in dieser Straße. Ich hatte keine Ahnung, dass Value dort ein Etablissement unterhält.“
„Die Leitung soll absolut diskret sein.“
„Es ist ein recht weiter Weg, den man das tote Mädchen transportiert hat, da sie ja wahrscheinlich nicht in der Gegend gearbeitet hat. Da hat sich jemand wirklich angestrengt. ich bin mir sicher, dass der Mörder uns etwas sagen will.“ Pimm sah das Opfer prüfend an. „Das Mädchen ist schon fast einen ganzen Tag lang tot, und doch ist keinerlei Verwesung erkennbar. Kommt Ihnen das nicht merkwürdig vor?“
„Mr. Values Männer brachten sie in einer Kiste voll Eis. Zusätzlich verwende ich meinerseits gewisse konservierende Stoffe“, gab Adams zu. „Sie verlangsamen den Verfall, was mir die Arbeit angenehmer macht. Mein Beruf scheint Sie nicht zu beunruhigen, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Die meisten Menschen finden ihn abstoßend.“
„Ich habe einen entfernten Verwandten, der Mediziner wurde. Er war das schwarze Schaf der Familie, zumindest bis ich kam. Er erzählte mir von seinen Forschungen, dass er Körper abkochte, um die Skelette freizulegen, und Kadaver sezierte. Er erklärte mir, die Forschung an Toten könne den Lebenden helfen und Leid mildern. Das scheint mir ein recht nobles Ziel zu sein, solange die armen Seelen, die untersucht werden, keine Familie haben, die ihre irdischen Überreste beansprucht. Auch wenn ich nicht glaube, dass Mr. Value sich um solche Feinheiten kümmert.“ Er warf einen Blick auf die leere weiße Maske des Riesen. „Was ist mit Ihnen? Ich möchte wetten, dass Sie nicht zum Lehrpersonal im St. Bartholomew’s gehören.“
„Ich habe meinen Beruf auf die alte Art erlernt, als Assistent eines Meisterchirurgen, als ich jünger war. Weder habe ich einen formalen Abschluss noch brauche ich einen. Ich bin damit zufrieden, meine eigenen Forschungen zu betreiben, und mein Gönner findet meine Arbeit nützlich genug, um sie mit Geldern zu unterstützen.“
„Sind Sie es gewesen, der die Wirkungskraft der Gewebeanziehung bei Opfern von Morbus Konstantin untersucht hat?“
Der Riese neigte lediglich den Kopf.
„Äußerst gescheit“, sagte Pimm. „Ich bewundere solche geistigen Leistungen. Wissen Sie, wofür Ihr Gönner Mr. Value Ihre Entdeckung verwendet hat?“ Er konnte den Anflug von Bitterkeit in seiner Stimme nicht unterdrücken.
„Die Wissenschaft ist ein Werkzeug, Lord Pembroke. Ich weiß, sie wird manchmal als Waffe verwendet. Aber ihre wahre moralische Orientierung ist vollkommen neutral. Der Stahlradscha zerquetscht seine Feinde mit dampfbetriebenen Automaten in Form von Kriegselefanten. Doch dieselben wissenschaftlichen Grundlagen treiben die Schiffe an, die die See befahren und den Handel an ferne Ufer tragen. Sie liefern die Energie für die Grabungsmaschinen, die sich in diesem Moment in die Erde unter dem Ärmelkanal fressen, um die Insel mit dem Kontinent zu verbinden. Dampfkraft ist nicht böse. Maschinen sind nicht böse. Nur ihr Verwendungszweck ist es manchmal.“
„Das ist eine interessante Sichtweise, Mr. Adams. Da wir uns schon mit dem Bösen beschäftigen, lassen Sie uns doch zu dem Mord zurückkehren. Was war nach Ihrer ärztlichen Ansicht die Todesursache? Das arme Mädchen hat keine sichtbaren Verletzungen.“
„Dieses Mal, denke ich, war es Gift. Vielleicht hat sie auch Äther oder andere Chemikalien eingeatmet. Manchmal erstickt der Mörder – vorausgesetzt, es
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