Mord allein macht auch nicht glücklich: Ein Provinzkrimi (German Edition)
musste nicht einmal Interesse heucheln. Und wenn er mal einen exquisiten Bildband zu seinem privaten Vergnügen haben wollte, ließ er seine Sekretärin einfach beim Verlag anfragen, und nur wenige Tage später konnte er das Prachtexemplar ins heimische Bücherregal einsortieren, auf das er allerdings seit seinem Auszug keinen Zugriff mehr hatte.
Er hatte Bücher rezensiert, so wie der Bäcker Brötchen buk. Am Fließband quasi. Im Laufe der Jahre war er zu einem Großmeister des Querlesens geworden, und nur selten unterlief ihm ein gröberer Fehler, verwechselte er Namen der Helden oder missdeutete kolossal die Aussage eines Romans. Aber selbst diese Ausrutscher hatten keine Konsequenzen. Man konnte davon ausgehen, dass auch die meisten Kollegen querlasen. Bei einigen hatte Kai sogar den Verdacht, dass sie statt der Bücher nur die Rezensionen der Kollegen lasen, aus denen sie wiederum ihre eigenen destillierten. Das fiel immer dann auf, wenn sich einer der kapitalen Lektürefehler gleich in mehreren Besprechungen fand. Die Autoren beschwerten sich jedenfalls nie. Sie waren zu feige, weil sie wussten, wie der Hase läuft. Wenn sich trotzdem mal einer von ihnen über eine Besprechung echauffierte, und sei es nur über einen sachlichen Fehler, dann galt er als schlechter Verlierer. Und er konnte davon ausgehen, dass ihm bei seinem nächsten Werk erst recht ordentlich eingeschenkt werden würde.
Endlich kam der Wein. Die Bedienung war blond, trug eine weiße Bluse und eine gebügelte, schwarze Schürze. Sie sprach mit österreichischem Akzent. Alles Gründe, warum Kai dieses Restaurant mochte.
Er sagte: »Danke«, und noch bevor die Bedienung den Gastraum wieder verlassen hatte, war das erste Glas geleert. Er schenkte sich aus der Karaffe ein zweites nach.
Wo war er gerade stehengeblieben? Ach ja: Rezensionen wie am Fließband. Man musste es so sehen: Je weniger Zeit man brauchte, desto höher war der Stundenlohn.
Jetzt war Kai zum Autor geworden, und er durfte s elber die Furcht der Autoren vor den Rezensenten ken nenlernen. Noch allerdings hatte es keine einzige Be sprechung seines Buches gegeben, jedenfalls nicht in de n Medien, die er für seriös hielt. Das Internet zählte nicht, da war er kulturkonservativ. Im Internet bekamen ja sogar Dostojewski und Thomas Mann ihr Fett weg, Shakespeare und Dante Alighieri. Typen, gegen die sich ein professioneller Kritiker nie etwas zu sagen traute. Da musste erst der Pöbel zur Feder greifen, um in Leserrezensionen die angeblichen Titanen der Literatur vom Sockel zu holen. Das heißt natürlich: in die Tastaturen hauen. Das heißt natürlich: das Volk, nicht der Pöbel. Herrschte ja schließlich die sogenannte Demokratie.
Kai van Harm war drauf und dran, sich in Rage zu grübeln. Zur Beruhigung trank er einen nächsten, sehr beherzten Schluck vom Grauburgunder, dann zog er mit spitzen Fingern eines der gebundenen Bücher aus Frau Dr. Grubers Jutebeutel heraus.
Herrjemine, was war denn das da auf dem Cover? Eine verwesende Leiche? Waren das da Fleischfetzen an einem Knochen? Sah aus wie abgenagt. Eindeutig ein Unterarm, Elle und Speiche. Zweimal gebrochen. Zwar kaschiert vom Grafiker wie das gesamte Bild, weichgezeichnet irgendwie, aber dennoch alles gut erkennbar. Da kam einem ja das Frühstück wieder hoch. Samt diesem ekligen Filterkaffee. Und war das da etwa ein Madennest? Dort in dieser halbgefüllten Augenhöhle? Aber womit zum Henker war diese Augenhöhle überhaupt halb gefüllt. Das war alles Mögliche, nur kein Auge. Irgendein Matsch aus graurotem Fleisch. Und das dahinten in der Ecke, unter dem zerborstenen Spiegel, aus dem diese Gesichtsfratze starrte, war das eine Handgranate? Nein, das war keine Handgranate. Das war ein herausgerissenes Herz, das verdeutlichten die heraushängenden Arterien. Ein blaues Herz, ein kaltes Herz, ein toter als totes Herz. Mein Gott, wer kaufte denn solche Sachen? Es gingen doch auch Kinder in Buchhandlungen! Manchmal jedenfalls.
Kai stopfte das Buch in den Beutel zurück. Und zog den nächsten Hardcover-Band hervor. Puh, dachte er, das ist jetzt wahrlich eine Erholung. Im Vordergrund war eine saftige Bergwiese zu sehen, strahlend grün wie ein Spinat-Smoothie und von Gänseblümchen überzogen. Hinten gab es eine Gletscherkette. Der Himmel war blau, und die Sonne strahlte. Der Grafiker hatte es sogar noch geschafft, zwischen Gletscher und Wiese einen Bergsee zu platzieren. Das Cover sah aus wie ein Urlaubsprospekt, und es kam
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