Mord am Millionenhügel
zum Examen machen könnte, aber das würde er wohl in Kauf nehmen. Es sei etwas anderes. Eva hat wohl versucht, ihn danach zu fragen, aber er hat nichts gesagt. Sie hat es nie herausbekommen, in all den Jahren nicht, soweit ich weiß. Emil hat darauf bestanden, daß es keine Alternative gäbe. Dann hat er gemeint, die Verlobung könnte man ja, wenn es denn schon sein müßte, gleich vollziehen. Dann hat er sie, unter dem Dach der Eltern, in ihrem eigenen Zimmer vergewaltigt. Ich weiß nicht, wieviel Gewalt dazu nötig war; wahrscheinlich war Eva viel zu durcheinander und angeekelt, als daß sie sich noch irgendwie hätte wehren können. Anschließend hat sie ein paar Tage mit Fieber im Bett gelegen, dann ist sie abgehauen und zu mir gekommen. Sie ist einige Wochen in dem kleinen Zimmer geblieben. Ich hatte tagsüber immer Angst, daß sie abends, wenn ich nach Hause kam, fort sein könnte, aber sie ist geblieben.«
Ich zündete mir eine weitere Zigarette an. Mir war sehr kalt. Ariane saß da, ganz ruhig, aber ihre Augen waren verschleiert. Sie trank einen Schluck Tee und räusperte sich.
»Ich habe alles Mögliche versucht, aber sie war für nichts zu gewinnen. Sie wissen schon: Polizei, Anzeige gegen Vater und Pflegebruder, zumindest wegen Vergewaltigung – nichts. Dann ist ihre Periode ausgeblieben; Emil hatte einen Volltreffer gelandet. Als sie sicher war, ist sie morgens mit mir aus dem Haus gegangen. Sie war ganz ruhig. Sie hat sich von mir verabschiedet; alles Reden war umsonst.« Sie nahm einen neuen Zigarillo und paffte eine Weile, schweigend.
»Ein paar Wochen später flatterte mir eine Hochzeitsanzeige mit Einladung ins Haus. Ich habe ihr einen Brief geschrieben, in dem ich ihr sagte, daß mein Herz und mein Dach jederzeit für sie da seien; sie könne aber nicht von mir erwarten, daß ich jemals einen Fuß über die Schwelle ihres Hauses setze; frühestens nach der Scheidung. Nicht ganz acht Monate später kam Ines auf die Welt.«
Ich drückte meine Zigarette aus und holte tief Luft. »Mein Gott«, sagte ich, »das ist ja eine gräßliche Geschichte. Nicht, daß ich etwa an Ihren Worten zweifle, aber wir haben das Zwanzigste Jahrhundert! Das ist doch wie ein Hintertreppenroman von Karl May.«
Sie nickte; um ihren Mund war ein sehr bitterer Zug. »Wo fängt für Sie das Zwanzigste Jahrhundert an? Auschwitz? Vietnam? Kambodscha? Archipel Gulag? Oder bei der Mondlandung und den Hungerkatastrophen?«
Ich hob hilflos die Hände. »Was soll ich dazu sagen? Sie haben natürlich recht, aber trotzdem ...«
Nach längerem Schweigen sagte sie: »Der saubere Emil ist heute ein geehrtes Mitglied des Bundestags. Irgendwie haben die beiden sich wohl arrangiert. Über die Umstände der zweiten Zeugung weiß ich nichts; bevor Evas Tochter Iris auf die Welt kam, hatten wir uns eine ganze Weile aus den Augen verloren. Das lag auch an mir; ich habe damals bei einer Betriebsfeier einen Fehler gemacht, der heute Evelyn heißt ... Mein damaliger Vorgesetzter; er war sehr anständig und hat die ganze Zeit anstandslos gezahlt. Er wollte mich sogar heiraten.« Sie blickte konzentriert in den Aschenbecher. »Na ja, einen Teil der Sache hatte ich Evelyn in den vergangenen Jahren so nach und nach erzählt. Irgendwann wollte sie natürlich wissen, wieso sie keinen Vater hat. Inzwischen hat sie ihn mal kennengelernt und hat doch lieber wieder keinen. An dem Abend mit Baltasar habe ich dann die ganze Geschichte erzählt, zum ersten Mal in all den Jahren. Sie können sich denken, daß meine Tochter entsetzt war. Es war sehr hilfreich, daß Baltasar dabei war. Er kann sehr geschickt beruhigen und ausgleichen.«
»Ah ja«, sagte ich. Und hatte das Gefühl, es sei an der Zeit, das Gespräch wieder auf ein anderes Niveau zu bringen. »Beruhigen und ausgleichen, sehr interessant. Mich regt er meistens furchtbar auf.«
Danach berichtete ich ihr, was ich in den beiden Tagen herausgefunden hatte. Abgesehen von einem allgemeinen Gefühl des Widerwillens gegen bestimmte Personen und einigen undeutlichen Verdachtsmomenten hatten wir natürlich nichts.
Wir beschlossen, uns am Wochenende noch einmal zusammenzusetzen.
»Bis dahin«, sagte ich, »hoffe ich, von der Haushälterin oder von Barbara Grossek noch etwas zu erfahren.«
»Oder von Evelyn«, sagte sie. »Die ist jetzt ganz wild darauf, den Vater ihrer Freundin aus dem Verkehr zu ziehen. Sie versucht, im Haus Morken irgendwas herauszubekommen.«
»Sie soll aufpassen«, sagte
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