Mord am Mirador (Ein Gomera-Krimi) (German Edition)
mich.“
„Gut“, sagte ich, „dann gib mir bitte deine Handynummer, und Anitas möchte ich auch.“
Er sah mich finster an. „Anita hat mir streng verboten, irgendwelchen Männern ihre Handynummer zu geben. Sonst wird sie ständig mit Anrufen belästigt.“
Ich verdrehte die Augen. „Da hat sie sicher recht, aber du weißt, dass dies hier ein Notfall ist.“
Er diktierte mir die beiden Nummern und ich tippte sie in mein Handy.
Ich sah ihn an. Noch vor kurzer Zeit war er der aufbrausende Halbstarke gewesen, der mich im Casa Maria tätlich angegriffen hatte. Nun wirkte er wie ein kleiner, hilfloser Junge, der eine Heidenangst hatte. Mein Herz flog ihm entgegen, schon weil er seiner Schwester so ähnelte. Wäre es Anita gewesen, die da als Häufchen Elend stand, wäre ich ausgestiegen und hätte sie in meine Arme geschlossen. Das ging bei Carlos natürlich nicht. Stattdessen nickte ich ihm nur freundlich zu.
„Wir bleiben im Kontakt, Carlos. Halt die Ohren steif.“
Er nickte mit bebenden Lippen zurück; ein Kind, das versuchte männlich zu wirken, und für das ich unendliches Mitleid empfand.
Mitleid auch deshalb, weil ich im wahrsten Sinne mit litt. Und weil ich genau solch eine Heidenangst hatte und selbst ein Häufchen Elend war.
Ich fuhr kurz nach Hause, fütterte meine Ziegen, aß und trank etwas, war aber schon im Gedanken in Arure am Acueducto. Der Motor meines Wagens war noch nicht kalt, da sprang ich wieder hinter den Lenker und fuhr weiter.
Kapitel 12
Es war nun früher Nachmittag. Der eigentliche Betrieb würde erst am Abend einsetzen. Der Mirador El Santo lag einsam und friedlich im Licht der Sonne, die Schatten waren kaum merklich länger geworden.
Bienen sirrten in den Euphorbienstämmchen. Ab und zu rauschte ein Auto auf der Hauptstraße vorbei. Sonst war es verträumt und beschaulich hier.
Wo sollte ich mit meiner Suche anfangen? Sollte ich einfach zum Eingang des Restaurants marschieren und Einlass begehren?
Aber in der jetzigen Situation wollte ich keine Aufmerksamkeit auf mich lenken. Ich machte mir sowieso schon Sorgen, dass ich eventuell der seltsamen Rettungscrew oder dem Hippie von neulich aufgefallen sein könnte.
Da fiel mir mein Handy ein. Ich könnte Anita anrufen. Wenn sie irgendwo im Restaurant wäre, würde sie sicher rangehen und wenn möglich zu mir hinaus kommen.
Mit zitternden Fingern tippte ich auf die Tasten des Telefons. Dann presste ich es an mein Ohr. Ich hörte, wie es in der Leitung klingelte. Es dauerte einen Moment, bis ich merkte, dass irgendwo nicht weit von meinem Standort Musik erklang. Es waren die ersten Takte von „Toda una vida“, eines der Lieder, das die Sänger im Casa Maria immer gerne sangen:
Ich möchte ein Leben lang mit dir sein. Ich weiß nicht, wie ich es aushalten könnte, jemals ohne dich zu sein.
Ein Leben lang würde ich dich verwöhnen.Ich wäre sanft. Denn mein Leben kann nur gut sein, wenn ich für dich sorgen darf.
Ach wie müde macht mich das Leben, denn immer wieder gibt es die Angst, Angst und Verzweiflung.
Ich möchte ein Leben lang mit dir sein,
Ich weiß nicht, wie ich es aushalten könnte, jemals ohne dich zu sein.
Mit einem Mal schnürte es mir die Kehle zu. Das waren Klänge aus Anitas Handy, so sicher wie das Amen in der Kirche.
Ich hielt mein Handy weiter fest an das Ohr gepresst und folgte dem Klang der lockenden Musik. Dann ließ ich es sinken.
Ich stand direkt vor der Mauer hinter der es steil in den Abgrund ging, kurz vor dem Einstieg in den Weg nach Taguluche.
Ich lehnte mich vor und sah herab.
Etwas blitzte im Sonnenlicht direkt unter der Mauer. Es hing an einem Strauch, der gerade in meiner Reichweite war. Ein kurzer Frauenarm könnte nicht dorthin reichen.
Ich beugte mich noch weiter vor und griff danach. Kühles Metall lag in meiner geschlossenen Faust. Ich öffnete sie und blickte hinein.
Es war Anitas Silberkette mit dem Operculum.
„Anita!“, brüllte ich, „Anita, Anita!“
Doch schon während ich ihren Namen rief, ahnte ich, dass sie mir nicht antworten würde.
Ich lehnte mich noch weiter vor, so weit, dass mir schwindelig wurde. Da erschrak ich fürchterlich. Unten lag eine Puppe, wie die in dem Haus in Hermigua. Nur blickte sie nicht vergnügt. Ihre Augen waren geschlossen und sie war sehr blass. Das Liebeslied spielte wie zum Hohn unaufhörlich weiter.
Zornig drückte ich auf die Austaste meines Handys und schob es mitsamt der Kette in meine Tasche. Dann stürmte
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