Mord am Mirador (Ein Gomera-Krimi) (German Edition)
Anita tot.
Woran war sie um Himmels Willen gestorben?
Denkbar wäre, dass sie einen Schwächeanfall gehabt hatte, als sie über die Mauer ins Tiefe geblickt hatte. Aber ein Schwächeanfall bringt keinen Menschen um, und Anita war eine gesunde junge Frau gewesen.
Schwächeanfall.
Mit einem Mal stellten sich meine Nackenhaare auf.
„Schwächeanfälle“ waren im Acueducto keine Seltenheit gewesen.
Ich zitterte.
Aus einem Impuls heraus, suchte ich Anitas Taschen ab. Sie trug eine Jeans, denn sie hatte sich wohl nach Feierabend ihre Alltagskleidung angezogen.
In der einen Tasche fand ich etwas. Ich zog den flachen Gegenstand heraus. Es war ein gomerianisches Mandelplätzchen, ein Almandredo.
Das süße, mandelhaltige Gebäck gilt als Spezialität auf der Insel. Bei meinem Besuch im Acueducto hatte man mir einen Almandredo nach dem Essen neben meine Mokkatasse gelegt. Er war köstlich gewesen, wie alles in dem Restaurant.
An Anitas Almandredo fehlte ein Stück, als hätte sie davon abgebissen.
Ich nahm mein großes Stofftaschentuch heraus und legte das Plätzchen in die Mitte. Dann suchte ich mein Taschenmesser, klappte eine scharfe Klinge heraus und schnitt vorsichtig einige der Haare von Anitas Stirn ab. Ich legte sie zu dem Almandredo dazu, faltete das Taschentuch wieder zusammen und steckte es ein.
Eine Weile kniete ich noch neben Anitas Körper und sah ihn wehmütig an. Dann beugte ich mich über sie und drückte einen sanften Kuss auf ihre weiße Stirn.
„Ade, Anita“, flüsterte ich. „Ich muss jetzt wieder gehen, aber ich verspreche dir, dass ich der Ursache deines Todes auf den Grund gehen werde und ich werde, wenn er tatsächlich auf Menschenschuld beruht, deinen Tod rächen, das schwöre ich.“
Dann drehte ich mich um und stieg den Berg wieder hinauf zum Mirador.
Als ich oben angekommen war, nahm ich mein Handy heraus und rief die P olicia in San Sebastian an.
Ich erzählte ihnen, dass ich ein Tourist sei und beim Wandern unterhalb des Mirador El Santo auf eine Frauenleiche gestossen sei.
Als man mich nach meinem Namen fragte, legte ich auf.
Kapitel 13
Auf dem Weg zu meinem Wagen sank mir das Herz, als mir einfiel, was mir jetzt bevorstand.
Ich musste mich mit Carlos in Verbindung setzen.
Wenn du sie findest, benachrichtigst du mich.
Ja Carlos, sagte ich ihm im Geist, ich habe deine Schwester gefunden, aber nicht wie du dachtest und hofftest, sondern wir wir es beide in unseren schlimmsten Albträumen uns nicht ausmalen konnten.
Wie sollte ich ihm das nur sagen?
Über das Handy ging das sicherlich nicht, also fuhr ich gleich weiter nach Las Hayas.
In diesen Dörfern sausten Gerüchte wie ein Lauffeuer von Haus zu Haus. Carlos sollte es nicht über Dritte erfahren.
Als ich vor seinem Haus hielt, dauerte es keine Sekunde, da kam er schon herausgerannt. Die Anspannung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Ich stieg aus und stand vor ihm.
Wir sahen uns gegenseitig in die Augen.
Mein Gesicht verriet alles, das war mir nun klar, denn Carlos schüttelte erst heftig seinen Kopf, als wolle er das verleugnen, was er darin lesen konnte, dann brach er zusammen und weinte herzzerreissend.
Ich trat auf ihn zu und legte meine Arme um ihn und er drückte seine Stirn gegen meine Schulter und weinte hemmungslos weiter, so dass mein Hemd ganz durchnäßt wurde.
Passanten auf der Dorfstraße wurden aufmerksam. Jetzt galt es, Carlos vor ihrer Neugier zu schützen.
“Komm, Carlos, komm”, sagte ich sanft zu ihm, “wir wollen lieber in das Haus gehen und dann sprechen wir in Ruhe miteinander.”
Er löste sich von mir, nickte und führte mich mit hängendem Kopf in das kleine Häuschen.
Dort war es dunkel und kühl. Schon bevor sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, spürte ich, wie sehr das Haus durch Anita geprägt war. Kleine, ausgetretene Schuhe standen neben der Tür. An einem Wandhaken hing ihre Jacke.
Blumen standen auf dem Fensterbrett. Es duftete nach ihrem Parfüm.
Ich war überwältigt durch das Gefühl ihrer Nähe und hätte am liebsten sofort kehrt gemacht, um zu fliehen, aber das ging natürlich nicht.
Carlos ging in die Küche, ließ kaltes Wasser laufen und wusch sich das Gesicht. Ich spürte, dass ihm jetzt peinlich war, dass er vor mir so zusammengebrochen war.
Wir setzten uns an den Küchentisch.
Darauf standen noch die Reste einer bescheidenen Mahlzeit, die Carlos eingenommen hatte.
Carlos starrte vor sich hin auf die Tischplatte. Ein tiefer
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