Mord am Mirador (Ein Gomera-Krimi) (German Edition)
gehört hat. Es steht schon ewig leer.“
„Aber wo sind die Besitzer hin? Sind sie...“, mich überlief ein Frösteln, „...bei einem Unfall ums Leben gekommen?“ Ich musste unwillkürlich an Anita und Carlos' Eltern denken, denen auch so ein Unglück widerfahren war.
„Unsinn“, sagte der Alte. „Wo sollten sie schon sein? Ausgewandert sind sie.“ Er warf seinen Arm aus in die allgemeine Richtung des Meeres, „Fort. Nach Amerika. Wie alle.“
„Und wissen Sie, wie sie hießen?“
„Ja. Das waren die Luengos“, sagte er, „Sie sind nie wieder zurückgekehrt.“
„Kann es sein, dass ihre Nummer noch immer im Telefonbuch steht?“
Er grinste. „Auf Gomera schon.“
Sie sind nie wieder zurückgekehrt.
Ich hatte erfahren, was ich wissen wollte. Meine Vermutung war bestätigt. Der Notarzt, der in Arure Dienst gemacht hatte, war gar keiner. Ich hätte mir das gleich denken können, als ich seine unbeholfenen Rettungsversuche gesehen hatte.
Ich bedankte mich bei dem alten Mann und kehrte zum Auto zurück.
Carlos war ärgerlich.
„Du warst doch ganz schön lange weg. Was sollte das?“
„Es musste sein“, antwortete ich kurz.
„Hatte das denn irgendetwas mit Anita zu tun?“, bohrte er weiter.
„Sicher nicht“, sagte ich, um ihn zu beruhigen.
Insgeheim dachte ich: Gebe Gott, dass es so ist!
Auf der Fahrt zurück nach Las Hayas musste ich immerfort an das seltsame Geisterhaus in Hermigua denken.
Seine Besitzer hatten es vor Jahrzehnten verlassen. Sie hatten das Bett ordentlich gemacht, vielleicht alles noch einmal durchgefegt, dann hatten sie die Tür abgeschlossen, sich nicht mehr umgedreht, waren vermutlich nach Teneriffa oder aufs Festland gereist, hatten ein Schiff bestiegen und hatten ihr Glück in der Neuen Welt gesucht.
Ob sie jemals wieder einen Gedanken an ihr Haus verschwendet hatten? Hatten sie vorgehabt, einmal zurückzukehren? War ihnen am Ende in der Fremde etwas zugestoßen? Und die Puppe: Hatte ihre Tochter erst auf der Fähre nach Teneriffa gemerkt, dass sie die Puppe vergessen hatte? Hatte sie deswegen bitterlich geweint?
Ich ahnte schon, warum dieses eigentümliche Haus mich so besonders anrührte; es war diese Atmosphäre, die es atmete: Hier wurde etwas abgebrochen. Hier wurde etwas nicht zu Ende geführt. Hier hingen abgerissene Fäden in der Luft, die eigentlich verknotet sein sollten.
Mein Leben war auch so. Seit dem Vorfall in Deutschland. Ich hatte diese Tatsache immer gut verdrängt, aber nun lebte sie wieder auf und bedrückte und bedrängte mich auf das Neue. Ich hasste das.
„Gleich kommt die Stelle“, unterbrach Carlos plötzlich meine Gedanken.
„Welche Stelle?“, fragte ich verwirrt.
„Wo es geschehen ist.“
Da fiel es mir ein. Die Stelle, an der das Auto seiner Eltern in die Tiefe gestürzt war.
Ich konnte darauf nichts erwidern. Sonderbar, wie dieser Hinweis genau in meine Überlegungen passte. Abgebrochenes Leben. Abgerissene Fäden.
Ich legte eine Hand kurz auf Carlos' Hand und drückte sie fest, sagte aber nichts. Worte würden nur stören.
Als wir endlich in Las Hayas ankamen, war Carlos deutlich blass und er kaute nervös an seinen Fingernägeln.
Ich hielt vor dem Haus. Mein Herz klopfte unruhig.
„Geh hinein und schau nach“, sagte ich. „Ich warte hier. Wenn sie da ist, brauchst du nur winken, dann bin ich beruhigt und fahre weiter.“
Angespannt verfolgte ich mit meinen Augen seine Gestalt, als sie durch das Gartentor verschwand.
Vielleicht, sagte ich mir, vielleicht kommt Anita gleich lachend herausgerannt, schlingt ihre Arme um mich, drückt mir einen Kuss auf die Wange und macht mir und Carlos Vorwürfe, dass wir uns so um sie gesorgt hatten.
Doch es kam nur Carlos. Sein Gesicht war fahl, seine Schultern hingen resigniert herunter.
Was nun? Wie soll es weitergehen?, dachte ich fieberhaft.
Wenn sie nicht hier war, wo war sie dann?
Jedenfalls konnte ich den armen Kerl nicht alleine in dem verwaisten Haus zurücklassen. Das brachte ich nicht übers Herz.
„Komm, steig ein“, sagte ich, „Du kommst mit nach Arure. Da sehen wir weiter.“
Aber Carlos stand nur da und schüttelte seinen Kopf.
„Warum nicht?“, fragte ich. „Du kannst gerne wieder bei mir übernachten.“
„Nein“, sagte er, „Ich bleibe hier. Vielleicht kommt sie zurück, und dann wäre das Haus leer. Du suchst dort und ich warte hier. Wenn sie auftaucht, rufe ich dich auf dein Handy an. Wenn du sie findest, benachrichtigst du
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