Mord am Mirador (Ein Gomera-Krimi) (German Edition)
ich an der kleinen Kapelle vorbei und in den Weg hinein, der hinunter in das Tal führt.
Ich rannte wie ein Berserker. Ich glaube, mein Leben war regelrecht in Gefahr, denn ich achtete nicht auf das tückische Lavageröll, das meinen Füßen so gut wie keinen Halt bot. Wie die Erbsen, die die Kölner Schneidersfrau ausgestreut hatte, rollte es unter mir weg und ich fiel hin.
Ich sprang auf und stürmte weiter. Wieder fiel ich hin. Diesmal ruderte ich wie wild, auf der Suche nach etwas, woran ich mich festhalten konnte. Im Sturz fasste ich an die runde, grüne Scheibe eines Opuntienkaktus. Sofort brannte meine Hand wie Feuer, denn sie war voller Stachel. Fluchend versuchte ich, sie mit den Zähnen heraus zu pflücken, aber es waren zu viele.
Ruhig, Jan, nur ruhig, schimpfte ich mit mir, du musst deine Nerven bewahren, atme durch.
Mit zitternden Händen zog ich ein Heftpflaster aus meiner Börse, das ich immer für den Notfall dabei hatte. Ich riss das Schutzpapier ab und drückte die Klebefläche immer wieder auf die zerstochene Handfläche, bis das Pieksen nachließ.
Ich musste vernünftiger sein, soviel war klar.
Also setzte ich meine Füße behutsamer. Immer wieder sah ich auf und überlegte, wo ich entlang gehen sollte, um Anita zu erreichen. Ich musste den Weg verlassen. Es war verdammt schwer, denn es war sausteil und hier gab es nur halsbrecherische Ziegenpfade.
Nach etwa einer halben Stunde erreichte ich endlich die Stelle, an der Anita lag. Ich keuchte vor Anstrengung und war nassgeschwitzt.
Sie lag friedlich auf dem Rücken, wie die Puppe. Ein Hauch ihres Orangenblütenparfüms schwebte noch um sie herum. Ihre Haare verdeckten die eine Hälfte ihres Gesichts. Als ich sie sanft wegstrich, merkte ich, dass sie ganz verklebt waren. Aus einem Schnitt an ihrer Stirn war Blut herausgelaufen, aber nun war es ganz angetrocknet.
Anitas Haut fühlte sich kühl an und ich wusste, dass sie tot war.
Da brach ich zusammen. Ich kauerte neben ihrem leblosen Körper wie ein verlorenes Bündel und weinte mein ganzes Elend heraus. Ich rief ihren Namen, küsste ihr kaltes Gesicht und schluchzte wie ein Kind. Verworrene Gedanken kreisten durch meinen Kopf.
Abgebrochenes Leben.
Abgerissene Fäden.
Ich möchte ein Leben lang mit dir sein,
Ich weiß nicht, wie ich es aushalten könnte, jemals ohne dich zu sein.
Abgebrochenes Leben.
Abgerissene Fäden.
Ein Leben lang würde ich dich verwöhnen.Ich wäre sanft, denn mein Leben kann nur gut sein,
wenn ich für dich sorgen darf.
Wie hatte Anita damals den plötzlichen Tod des alten Gastes noch kommentiert? Ihre Worte klangen in meinen Ohren:
„Nicht wie bei meinen Eltern. Nicht viel zu jung und so plötzlich aus dem Leben gerissen.“
Nun hatte meine arme, süße Anita auch so ein früher Tod ereilt.
Nach einiger Zeit, ich weiß nicht wie lange es dauerte, ließ mein Schluchzen nach.
Ich nahm Anitas schmale Hand und küsste sie.
Dann betrachtete ich sie mit brennenden Augen.
Was war geschehen?, dachte ich mir, wie war es zu diesem schrecklichen Unglück gekommen?
Sie hatte an der Mauer gestanden und den Blick bewundert. Es muss gestern Abend gewesen sein. Der Verschluss ihrer Kette muss sich gelöst haben, und die Kette war abgefallen. Anita hatte versucht, das Kleinod zu erhaschen, und hatte die Balance verloren. So kam es zu dem verhängnisvollen Todessturz.
Es war eine einfache und schlüssige Erklärung.
Aber irgendwie wollte ich nicht daran glauben.
Ich zog die Kette aus meiner Tasche und prüfte den Verschluss. Er war völlig intakt. Die Kette war neben dem Verschluss zerrissen. Nachdenklich schob ich sie zurück in die Tasche.
Anitas Körper war bis auf den relativ kleinen Schnitt auf ihrer Stirn unversehrt.
Ich sah hinauf und erkannte, dass eine Spur durch das Gestrüpp und Geröll von direkt unter der Mauer bis zu diesem Fundort verlief. Anita war nicht hoch durch die Luft geflogen und dann aufgeprallt, sondern nur über die Mauer gefallen und dann über den steilen Abhang bis hierher gerutscht. Die losen Lavakiesel hatten wie eine Rollbahn funktioniert.
Nun tastete ich behutsam Anitas Kopf ab. Da war keine Beule, keine Fraktur.
Vielleicht hatte sie sich das Genick gebrochen.
Also fühlte ich ihren Hals und Nacken sorgsam ab.
Auch da war nichts festzustellen.
Ich musste unwillkürlich denken, dass der heftige Schlag mit meinem Spaten Carlos weit stärker beeinträchtigt hatte, als dieser Sturz Anita.
Und doch war
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