Mord am Niddaufer - ein Kriminalroman
hatte sie aufgehört zu schreien.
„Ich war letzte Woche bei Ihnen. In der Sache Lea Schuster. Sie müssen sich doch erinnern.“
„Ja“, sagte sie schließlich.
„Wenn Sie versprechen, dass Sie stehen bleiben und nicht weiterrennen, dann lasse ich Sie los“, sagte Bohlan.
„Ich kann nicht. Ich muss dahin. Ich muss wissen, wer dort liegt.“
„Es ist Ihre Tochter“, sagte Bohlan tonlos. „Aber ich möchte Ihnen diesen Anblick ersparen.“ Er starrte in ein nunmehr lautlos schreiendes Gesicht, das ihn an das Gemälde
Der Schrei
von Edvard Munch erinnerte. Lautlos – doch von einer ungemeinen Präsenz.
Marina Weller begann, sich erneut zu regen. „Lassen Sie mich los. Ich muss zu ihr.“
„Bitte, Frau Weller. Glauben Sie mir. Es ist besser, wenn Sie da nicht hingehen.“
Vorsichtig umfasste er den Kopf. Sanft waren seine Berührungen und doch kraftvoll. Er wollte nichts an dem Kopf zerstören und zugleich dürfte er ihm nicht aus den Händen gleiten. Jetzt hielt er ihn auf Augenhöhe und starrte in die leblosen Augen. Wenn man das Blickfeld auf das Gesicht einengte und den abgeschnittenen Stumpf außen vor ließ, könnte man meinen, Natascha säße ihm gegenüber. Es kommt eben ganz darauf an, aus welchem Blickwinkel man die Welt betrachtet, welche Perspektive man wählt. Der Mann machte einen vorsichtigen Schritt zur Seite, stand jetzt direkt vor einem großen Wasserbehälter, gefüllt mit einer teuflisch guten Flüssigkeit. Seit Jahrhunderten waren die Menschen auf der Suche nach einem Jungbrunnen. Natürlich gab es so etwas nicht wirklich. Aber jenes Gemisch, mit dem das Behältnis gefüllt war, konservierte das Bestehende. Das tote Fleisch blieb erhalten, behielt seine Schönheit, legte seine Vergänglichkeit ab. Eigentlich mussten die toten Mädchen ihm dankbar sein. Sie würden niemals altern, würden für immer ihre Schönheit ausstrahlen. Vorsichtig tauchte er Nataschas Kopf in die Flüssigkeit ein und führte ihn langsam immer tiefer in das Gefäß, bis der Stumpf auf dem Boden angekommen war. Dann verharrte er für einen Moment und betrachtete sein Werk. Er war zufrieden, verschloss das Glas mit einem Deckel und hievte es hoch. Es bedurfte eines kleinen Kraftaktes, um es ins Regal zu befördern. Als er dies geschafft hatte, musste er kurz verschnaufen. Bevor er sich zum Gehen wandte, blickte er andächtig auf die beiden Behältnisse, die jetzt nebeneinanderstanden.
„Ich kann wohl davon ausgehen, dass Sie mit den Ermittlungen keinen entscheidenden Schritt weiter sind.“ Felicitas Maurer blickte mit versteinerter Miene in die Runde.
„So kann man das nicht sehen ...“ Bohlan versuchte, das Wort an sich zu ziehen. Ein Manöver, das Maurer im Keim ersticken wollte. Sie blickte den Kommissar ungerührt an und spielte dabei mit einem Füllfederhalter.
„Dann erklären Sie mir mal, wie es zum zweiten Mord kommen konnte.“
Bohlan schaute etwas hilflos zu Will, dann zu Klaus Gerding, der ungewohnt ruhig blieb. Normalerweise war es sein Part, dem Team in den Hintern zu treten, wenn die Ermittlungen zu langsam vor sich hin krochen. Doch so sehr er auch gegenüber seinen Mitarbeitern Dampf ablassen konnte, umso stärker nahm er sie nach außen hin in Schutz. Dass sich eine junge Staatsanwältin, die noch dazu erst vor kurzer Zeit nach Frankfurt gekommen war, aufspielte, als sei sie die letzte Instanz aller Entscheidungen, lag keineswegs in seinem Interesse.
„Jetzt halten Sie mal den Ball flach, Frau Staatsanwältin. Das Team Bohlan/Will ist erst seit wenigen Tagen an dem Fall dran. Niemand kann erwarten, dass sie von heute auf morgen den Mörder finden. Die beiden und ihr Team sind die besten Kriminalisten, die wir haben.“
„Vielleicht sollten Sie sich einmal Gedanken über Ihre Personalplanung machen.“ Maurer hatte den Füller zur Seite gelegt, ansonsten bewegte sich ihr Körper kein Stück. Das schwarze Kostüm saß wie angegossen, das Make-up war perfekt. „Nach allem, was ich bislang von den Ermittlungen mitbekommen habe, läuft hier einiges so, als hätte es in den vergangenen zwanzig Jahren keinerlei Veränderungen in der Ermittlungsarbeit gegeben. Alles antiquiert und gewöhnlich, ohne Esprit. So, wie es aussieht, haben wir es mit einem gefährlichen Serienmörder zu tun, jemanden, der offensichtlich Köpfe sammelt wie andere Leute Fußballbilder.“ Maurer griff nach einem gut gefüllten Aktendeckel, der auf ihrem Schreibtisch gelegen hatte, und zog ihn zu sich. „Ich
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