Mord am Oxford-Kanal
einige Anmerkungen zu machen, die er jedoch
diesmal nicht auf schrieb. Aus irgendeinem Grund war er mit sich unzufrieden.
Etwas, irgendein Detail in Teil I hatte ihn stutzen lassen, aber er wußte
nicht, was. Vielleicht fiel es ihm ein, wenn er die Seiten noch einmal las.
Aber das eilte nicht. Oder? Nein. Das Problem, dem sich sein Verstand hier
gegenübersah, bedeutete nicht mehr als eine harmlose, amüsante Unterhaltung.
Und doch gab die zweifelnde Stimme in ihm keine Ruhe: Konnte wirklich jemand, irgend
jemand, diesen Bericht lesen, ohne zwei, drei Punkte in Frage zu ziehen —
oder vielleicht sogar drei oder vier?
Auf welche Weise zum Beispiel
hatten sich die Bootsleute, die die Kanäle befuhren, wohl gewöhnlich amüsiert
bei längeren Fahrtpausen? Das wesentliche war natürlich, die Pferde zu
wechseln, aber frische Pferde taugten sicherlich nur bedingt dazu, die
Bootsleute glücklich zu machen. Waren sie vielleicht ins nächste Bordell
gegangen? Diejenigen unter ihnen, die ohne Sex nicht leben konnten, sicherlich.
Und welche Rolle hatte der Alkohol gespielt? Vertranken sie den Lohn in den
vielen verräucherten Spelunken, die den Kanal säumten? Und warum auch nicht?
Was sonst hätten sie tun sollen? Und Alkohol, obwohl er bekanntermaßen nicht
gerade die Potenz stärkte, weckte doch Triebe und Begierden. In diesem
speziellen Fall den Trieb, einen hübschen weiblichen Passagier zu
vergewaltigen?
So viele Fragen. Aber wenn das
Ganze im Grunde ein Sexualverbrechen gewesen war, warum hatte man dann im
ersten Prozeß die Anklage wegen Vergewaltigung fallenlassen? Zugegeben, man
hatte damals noch nicht die Beweismöglichkeiten von heute, es gab noch keine
Methode, mittels deren ein Mann aufgrund seines Spermas der Tat überführt
werden konnte. Aber irgendwie hatte man es damals auch schon geschafft,
Vergewaltiger vor Gericht zu bringen, und der Spruch des Konfuzius bezüglich
der mangelnden Bewegungsfreiheit eines Mannes, dem die Hose auf die Schuhe
hängt, dürfte doch wohl hoffentlich schon damals als ziemlich zynisch empfunden
worden sein.
Die Fußnote, die sich auf die
Gerichtsprotokolle bezog, war eine Überraschung für ihn gewesen, und er dachte,
daß es doch für die Allgemeinheit, vor allem aber für die Soziologen, von
Interesse sein mußte zu erfahren, wie die öffentliche Meinung sich damals,
1859, zu Vergewaltigungen gestellt hatte. Vermutlich nicht ganz so mitfühlend,
wie es ein unlängst ergangener Richterspruch widerspiegelte, den die Times heute morgen einer Schlagzeile für wert befunden hatte: «Grundsatzurteil in
Zivilprozeß — 35 000 Pfund Schadenersatz für Vergewaltigungsopfer». Wo mochten
die Protokolle sich befinden — falls sie überhaupt noch existierten? Vielleicht
waren ja sie — so Morses Vermutung — der Grund für Denistons Andeutungen
bezüglich «einander widersprechender Aussagen». Aber wo genau lagen diese
Widersprüche? Deniston mußte an etwas Bestimmtes gedacht haben, an irgend
etwas, das ihm aufgefallen war und ihn beunruhigt hatte. Im Griechischen gab es
ein Wort dafür: parakrousis — das Erklingen eines leicht falschen Tones in
einer ansonsten harmonischen Melodie.
Hatte dieser «falsche Ton»
vielleicht mit Mrs. Laurensons Aussage zu tun? Wie auch immer Joannas Lage
gewesen sein mußte, Mrs. Laurenson war an Bord der Barbara Bray bis
King’s Sutton gefahren (und das vermutlich doch mit Einverständnis ihres
Ehemannes), das heißt, sie hatte sich freiwillig in die Gesellschaft einiger
lüsterner Trunkenbolde begeben, denn genau das waren ja die Männer der Barbara
Bray, wenn man dem Bericht Glauben schenken durfte. Nicht einfach zu
schlucken, diese Tatsache. Es sei denn, der Kaimeister hätte nichts dagegen
gehabt, seine Frau für eine Nacht — oder überhaupt — anderen Männern zu
überlassen. Aber das erschien nun etwas weit hergeholt; und schließlich gab es
ja auch eine ganz andere Lösungsmöglichkeit für dieses doch sehr rätselhafte
Verhalten — eine einerseits sehr viel näherliegende, andererseits schon sehr
überraschende Lösung: daß nämlich die Männer der Barbara Bray in
Wahrheit gar nicht so betrunken gewesen waren. Aber die Zeugen hatten genau das
ausgesagt, die Beschreibungen waren ja zum Teil so plastisch gewesen, daß man
die Männer schon beinahe mit heruntergelassenen Hosen vor sich gesehen hatte,
so wie der Vergewaltiger bei Konfuzius, dem ja auch die Hose auf die Schuhe
gerutscht war...
Schuhe... Wieso hatte man
Joanna die Schuhe
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