Mord am Oxford-Kanal
sei
für sie alle, seit sie bei Preston Brook an Bord gekommen sei, nichts als eine
Last und Plage gewesen. Wie kam es ferner, daß sie sie noch immer verfluchten
und zur Hölle wünschten, selbst nachdem sie sie in den Kanal gestoßen und —
wenn man der Mordanklage Glauben schenken durfte — ihren Kopf unter Wasser gedrückt
hatten, bis sie sich unter ihren mörderischen Händen nicht mehr regte. Gab es
hierfür irgendeine Erklärung? Nun gut, es gab immer noch Teil vier, den er noch
nicht kannte, aber bis jetzt lautete die Antwort auf seine Frage eindeutig
«nein».
Oder doch nicht? Vielleicht gab
es ja eine Erklärung, die auch nur anzudeuten der gute Oberst allerdings, sei
es aus Prüderie oder auch nur aus Mangel an Phantasie, unterlassen hatte, daß
nämlich Joanna Franks ganz einfach eine Frau gewesen war, die Spaß daran gehabt
hatte, Männer zu reizen. Eine Frau, die während der etliche Tage dauernden
Reise die Männer durch ihr provozierendes Verhalten mehr und mehr verrückt
gemacht und die Eifersucht unter ihnen geschürt hatte.
Ach, Morse, hör auf, alles
Hirngespinste!
Ja hör auf! Es gab nicht den
kleinsten Beweis, der eine solche Annahme erhärtet hätte, nicht einen! Doch
trotzdem wurde er den Gedanken nicht los. Eine attraktive Frau... Langeweile...
Alkohol... ein Tunnel... noch mehr Langeweile... noch mehr Alkohol... wieder
ein Tunnel... Dunkelheit... Begierde... Gelegenheit... immer noch mehr
Alkohol... und die sich regenden Gelüste zwischen den Lenden... Selbst der
Oberst hätte das wohl zugeben können. Aber was wäre, wenn Joanna aktiv an
diesem Szenario mitgewirkt hätte? Was, wenn sie genau wie die Männer eine
unstillbare Begierde verspürt hätte? Was (um es ganz einfach zu sagen), wenn sie
genauso scharf auf Sex gewesen war wie die Männer, wenn sie eine
Vorläuferin jener Sue Bridehead aus Jude the Obscure 4 gewesen wäre, jener Frauengestalt im Roman von
Thomas Hardy, die nicht nur den alten Phillotson, sondern auch Jude an seine
Grenzen getrieben hatte.
Männerphantasien! hörte Morse
eine Stimme sagen. Typische Männerphantasien!
Doch es gab außer Joannas
Charakter noch einen weiteren Aspekt, der Morse vom Standpunkt formaler
Gerechtigkeit aus wesentlich zwingender und unstrittiger erschien. Die Stimmung
im Gerichtssaal war offenbar von Anfang an gegen die Männer der Barbara Bray gewesen; die jedem Angeklagten von Rechts wegen zustehende Unschuldsannahme
ganz eindeutig ersetzt durch die Überzeugung von ihrer Schuld. Und selbst bei
dem allem Anschein nach doch so sehr um Vorurteilslosigkeit bemühten Oberst
hatte das Urteil festgestanden, das merkte man an kleinen Nebenbemerkungen, zum
Beispiel wie er betonte, daß Oldfield bei seinem Gespräch mit dem Ehepaar Lee
«ganz offensichtlich noch sehr betrunken» gewesen sei. Neigten Kriminelle
eigentlich in der Regel nach der Tat dazu, sich noch mehr zu betrinken?
Versuchten sie nicht doch eher, wieder nüchtern zu werden? Eine möglicherweise
nicht unwichtige Überlegung...
Und da war noch ein dritter
Punkt, der Morse aufgefallen war: die Tatsache, daß die Anklagen wegen
Diebstahls und Vergewaltigung so einfach fallengelassen worden waren. War der
Grund wirklich, wie der Oberst vermutet hatte, daß die Staatsanwaltschaft, im
Vertrauen darauf, daß sie genug Beweise hatte, «Rory» Oldfield und seine Männer
des Mordes zu überführen, darauf verzichtet hatte, die weniger schweren Delikte
in die Anklageschrift aufzunehmen? Oder lag es nicht vielleicht eher daran, daß
sie genau wußte, daß sie diese beiden Tatbestände nicht würde beweisen können?
Doch wohl eher das letztere, dachte Morse. Mehrfache Vergewaltigung zu beweisen
(denn alle Männer waren ja dieser Tat angeklagt gewesen) schien
angesichts der Tatsache, daß das Opfer tot war und nicht mehr aussagen konnte,
ziemlich aussichtslos. Blieb also nur der Diebstahl. Eine unumgängliche
Voraussetzung für dieses Delikt war aber unzweifelhaft, daß es etwas zu stehlen
gegeben hatte. Was aber konnte das gewesen sein? Nach allem, was man über
Joanna wußte, war sie doch so gut wie mittellos gewesen. Das Geld für die
Bootspassage war ihr von ihrem Ehemann aus London geschickt worden, und als ihr
während der Fahrt, spätestens hinter Banbury, klargeworden sein mußte, in
welcher düsteren Gesellschaft sie sich befand, hatte sie alle möglichen
Gelegenheiten, auf anderem Weg nach London zu gelangen, verstreichen lassen.
Die einzig plausible Erklärung hierfür schien
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