Mord am Oxford-Kanal
Jarnells Aussage auf die Jury kaum
einen Eindruck. Jedenfalls überzeugte er sie nicht, wenn auch das, was er
sagte, durchaus ihr Interesse fand. Eine der aufsehenerregendsten Behauptungen
in Oldfields «Geständnissen» war, Joanna Franks zur Besitzerin von fünfzig
Gold-Sovereigns zu machen, die sie angeblich in einer ihrer beiden Reisekisten
mitgeführt hätte. Towns habe, so Oldfield, diese Tatsache entdeckt und sei von
Joanna dabei überrascht worden, als er ihr Gepäck nach dem Geld durchstöberte.
Sie habe gedroht, Towns im nächsten Büro von Pickford zu melden, wenn er es
nicht sofort wieder zurückgebe und sich bei ihr entschuldige. (Niemanden im
Gerichtssaal vermochte diese Geschichte zu überzeugen, und auch ich neige dazu,
sie als reine Erfindung Oldfields zu betrachten.)
Das Messer, das der Wirt des
Crown and Castle bei Joanna gesehen hatte, wurde später in einer ihrer Kisten
gefunden. Der Strick, mit dem die Kiste verschnürt werden mußte, war
zerschnitten, die Kiste offen. Man nahm an, daß die Männer sie irgendwann nach
dem Mord geöffnet und das Messer wieder an seinen Platz gelegt hatten. Es kann
als durchaus wahrscheinlich gelten, daß Oldfield und die Mannschaft vorhatten,
einen Teil von Joannas Habe in ihren Besitz zu bringen. Die Anklage im ersten
Prozeß erstreckte sich ja auch, wie wir wissen, auf Diebstahl. Es scheint
jedoch, daß sich die Staatsanwaltschaft im zweiten Prozeß ihrer Sache so sicher
war, daß sie auf eine Anklage des geringfügigeren Delikts (das ohnehin nur
schwer zu beweisen gewesen wäre) verzichtete, jedenfalls taucht dieser Punkt in
der Anklageschrift nicht auf. Auch im ersten Prozeß war man ja ähnlich selektiv
verfahren, nur daß damals die Anklage wegen Vergewaltigung im Mittelpunkt
gestanden hatte. Es sei hier noch angemerkt, daß befremdlicherweise die Anklage
wegen Vergewaltigung und Diebstahl (sowie wegen Mordes) sich in jenem ersten Prozeß
gegen jedes einzelne Mitglied der Mannschaft gerichtet hatte — einschließlich
des jungen Wootton.
Von allen Zeugen, die bei jenem
denkwürdigen Prozeß im April 1860 vor Gericht erschienen, weckte ganz sicher
Charles Franks die größte Aufmerksamkeit und Anteilnahme. Kaum hatte er den
Zeugenstand betreten, brach der arme Mann in Tränen aus, und es schien, als sei
er kaum in der Lage, den Blick zu heben und die Angeklagten anzusehen. Es war
deutlich, daß er Joanna sehr geliebt haben mußte. Während er dem Gericht
erklärte, daß er, als er von Joannas Tod erfahren habe, unverzüglich nach
Oxfordshire aufgebrochen sei, drehte er den Angeklagten demonstrativ den Rücken
zu. Er hatte Joannas Leiche bei dem gerichtlichen Voruntersuchungstermin
gesehen, und obwohl ihr Gesicht sehr entstellt war (an dieser Stelle seiner
Zeugenaussage drohte der Bedauernswerte von seinen Gefühlen überwältigt zu
werden), konnte er sie doch anhand einer kleinen Narbe hinter dem linken Ohr,
die nur ihren Eltern oder aber einem ihr sehr vertrauten Geliebten bekannt sein
konnte, identifizieren. Seine Identifizierung erfuhr eine zusätzliche
Bestätigung (obwohl eine solche kaum notwendig scheint), als man später in der
vorderen Kabine der Barbara Bray ein Paar Schuhe fand, das der Toten
genau paßten.
Nachdem die Zeugenvernehmungen
abgeschlossen waren und der Richter, Mr. Augustus Benham, den Sachverhalt noch
einmal umständlich dargelegt hatte, baten die Geschworenen durch ihren
Vorsitzenden um die Erlaubnis, sich zur Urteilsberatung zurückziehen zu dürfen.
Kapitel 16
In
einem Hotel in Brighton mit Blick auf die See nahm er ein üppiges Frühstück,
bestehend aus Schinken, Eiern, Toast und Orangenmarmelade zu sich, machte einen
kleinen Rundgang durch die Stadt, kehrte dann zum Bahnhof zurück und bestieg
den Zug nach Worthing.
Gerichtsprotokoll
einer Zeugenaussage im Prozeß gegen Neville George Clevely Heath über den Morgen nach dem Mord an Margery
Gardner
Vielleicht
lag’s an dem Traum.
Wie auch immer, Morse wußte,
daß irgend etwas eine andere, unvoreingenommenere Einschätzung des Berichts in
ihm bewirkt hatte. Auf einmal begann er, bestimmte Möglichkeiten in Betracht zu
ziehen, die sich eigentlich schon die ganze Zeit angeboten hätten.
Seine erste Überlegung betraf
den Charakter von Joanna Franks selbst. Wie erklärte es sich, daß — mochte ihr
Tod nun auf zufällige Umstände oder einen Vorsatz zurückgehen — die Besatzung
der Barbara Bray wieder und wieder darauf bestanden hatte, die Frau
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