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Mord am Oxford-Kanal

Mord am Oxford-Kanal

Titel: Mord am Oxford-Kanal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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die
Besatzung der Barbara Bray möglicherweise am Tod von Joanna Franks
unschuldig sein könnte, erwies sich am nächsten Morgen als eine jener Ideen,
die sich im hellen Licht der Vernunft schnell wieder verflüchtigen. Denn wenn
nicht die Schiffer die Schuldigen waren, wer dann? Trotzdem war Morse
überzeugt, daß, wenn der Fall ein Jahrhundert später zur Verhandlung gekommen wäre,
die Angeklagten eine gute Chance gehabt hätten, freigesprochen zu werden. Nach
damaligem Verständnis war der Schuldspruch vermutlich als rechtmäßig empfunden
worden, besonders der Pöbel, der auf Blut aus war, war durch die drakonischen
Urteile sicherlich befriedigt gewesen. Aber war das Urteil wirklich zu Recht
ergangen? Unbestreitbar war, daß eine Menge von Umständen gegen die Männer
sprach, aber gab es auch handfeste Beweise für ihre Schuld? Man hatte weder
Tatzeugen, noch wußte man, wie die Tat begangen worden war, es fehlte vor allem
auch das Motiv. Was man hatte, waren ein Ort und eine Zeit, die paßten — und
Joanna Franks, die mit dem Gesicht nach unten im Wasser treibend gefunden
worden war.
    Es sei denn, daß einige der
Aussagen im ersten oder zweiten Prozeß vom Obersten nur unvollständig
wiedergegeben worden waren. Deniston hatte sich doch ganz offenbar mehr für die
laxe Moral der Schiffer als für die Beweiskraft der Aussagen interessiert, und
so wäre es ihm schon zuzutrauen, daß er die möglicherweise entlastende Aussage
eines Zeugen, der ihm unwesentlich erschienen war, einfach ausgelassen hatte.
Vielleicht wäre es ganz ratsam, dachte Morse, einmal einen Blick in die
Gerichtsakte zu werfen, wenn es sie noch gab, oder aber sich die entsprechenden
Ausgaben von Jackson ‘s Oxford Journal anzusehen, die, wie Morse wußte,
noch greifbar waren, und zwar auf Mikrofilm in der Oxford Central Library. (In
der Bodleian Library vermutlich auch!) Aber er hatte ja das Buch des Obersten
auch noch nicht zu Ende gelesen. Wer weiß, vielleicht wurden im letzten Teil
noch entscheidende Dinge enthüllt.
    Er begann zu lesen.
     
     
    Plötzlich wurde er sich bewußt,
daß jemand neben seinem Bett stand. Es war Fiona. Sie roch nach
Desinfektionsmittel plus ein wenig Sommer. Ohne viele Umstände setzte sie sich
zu ihm, und er spürte ihre weiche Brust, als sie sich über ihn beugte, um zu
sehen, was er las.
    «Interessant?»
    Morse nickte. «Es ist das Buch,
das mir die alte Dame neulich vorbeigebracht hat. Die Frau des Obersten.»
    Fiona blieb einfach sitzen, und
mit Morses Konzentration war es vorbei. Er las jeden Satz vier-, fünfmal und
verstand doch nichts. Ob ihr klar war, wie sehr sie ihn durcheinanderbrachte?
    Doch im nächsten Augenblick
machte sie alles wieder kaputt.
    «Ich habe, seit ich aus der
Schule bin, kein Buch mehr angefaßt. Das letzte, das ich gelesen habe, war Jane
Eyre, das stand auf der Leseliste für die mittlere Reife.»
    «Hat es Ihnen gefallen?» fragte
Morse nicht ganz ohne Angst. (Charlotte Bronte war ihm seit langem lieb und
teuer.)
    «Nee, ziemlich langweilig.»
    Oje!
    Sie schlug die
schwarzbestrumpften Beine übereinander, entledigte sich eines Schuhs und
schüttelte ihn aus. Ein Sternchen fiel zu Boden.
    «Wann ziehen Leute ihre Schuhe
aus?» fragte Morse. «Ich meine, normalerweise.»
    «Komische Frage.»
    «Nur wenn sie ein Steinchen im
Schuh haben, wie Sie jetzt eben?»
    Fiona nickte. «Und wenn sie ins
Bett gehen, natürlich.»
    «Und wann sonst noch?»
    «Tja — wenn sie in Blackpool
paddeln, zum Beispiel.»
    «Und weiter?»
    «Wenn sie beim Fernsehen die
Füße hochlegen und, so wie ich, eine pingelige Mutter haben.»
    «Ja... und?»
    «Warum interessiert Sie das
so?»
    Morse überging die Frage. «Und
wenn sie Hühneraugen haben oder Schwielen oder sonst was und zum Chiropodisten
gehen», fuhr er unbeirrt fort.
    Fiona nickte. «Oder Blasen,
oder wenn sie müde Füße haben. Oder Frauen, wenn sie aus irgendeinem Grund ihre
Strumpfhose ausziehen wollen...»
    «Aus was für einem Grund?»
    Morse sah ein amüsiertes
Funkeln in ihren Augen, dann stand sie abrupt auf, strich die Bettdecke glatt
und schüttelte seine Kissen auf. «Wenn Sie das in Ihrem Alter noch nicht
wissen...»
    Oje.
    Alter.
    Morse fühlte sich genauso alt
oder jung wie immer, aber in einer Art momentaner Erleuchtung sah er sich auf
einmal so, wie er in den Augen dieses jungen Mädchens erscheinen mußte.
    Alt!
    Doch seine trübe Stimmung
hellte sich bald wieder auf, als unerwartet Sergeant Lewis an seinem Bett
auftauchte.

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