Mord am Oxford-Kanal
eine
Gelegenheit hatten, an einem Gottesdienst teilzunehmen. Ein Brief von
Hochwürden Robert Chantry, Pfarrer der Gemeinde Summertown, mag hier
stellvertretend stehen für viele andere, in denen die
Schiffahrtsgesellschaften, denen die Kähne gehörten, aufgefordert wurden, sich
mehr um das geistliche Wohl der ihnen anvertrauten Leute zu kümmern und ihnen sonntags
einige Stunden freizugeben, damit die, die die Neigung dazu verspürten, eine
Möglichkeit hatten, in die Kirche zu gehen. Wenn Oxford regulärer Anlaufhafen
gewesen wäre, hätte für die Mannschaft der Barbara Bray sogar durchaus
die Möglichkeit bestanden, an einem Gottesdienst teilzunehmen, da ein gewisser
Henry Ward, ein reicher Kaufmann, der mit Kohlen handelte, im Jahre 1838 eine
«Schiffer-Kapelle» gestiftet hatte, eine schwimmende Kirche, die an der Hythe
Bridge vor Anker lag und in der jeweils am Sonntagnachmittag und Mittwochabend
Gottesdienste abgehalten wurden. Wer weiß, ob nicht Joanna Franks noch am Leben
wäre, wenn die Schiffer Gelegenheit gehabt hätten, sich regelmäßig in
Gottesdiensten erbauen zu lassen.
Aber all dies liegt nun lange
zurück. Die schwimmende Kirche gibt es nicht mehr, und niemand kann heute noch
mit Sicherheit sagen, welches genau die schäbige Ecke auf dem Gefängnisgelände
war, wo Mörder und die anderen vermeintlich Verdammten zur letzten Ruhe
gebettet liegen.
Kapitel 19
Wir bekommen beim Lesen eine
Menge kluger Einsichten mitgeteilt, aber wir können ihre Wahrheit erst wirklich
nachempfinden, wenn wir denselben Weg zurückgelegt haben wie der Autor.
John
Keats, Briefe an John Reynolds
Morse war froh, daß der Oberst
den Rat Doktor Johnsons an Autoren, nämlich wenn sie etwas besonders Gutes
geschrieben hätten, es wieder auszustreichen, offenbar mißachtet hatte. Der
vierte Teil seines Berichts war jedenfalls entschieden der beste. Morse blätterte
zurück, um noch einmal einige der gelungensten Formulierungen Revue passieren
zu lassen, «sadistische Gelüste des Pöbels befriedigt» fand er großartig,
ebenso «zynische Gefühllosigkeit». Aber es ging um mehr als nur gelungene
Formulierungen. Es schien Morse nämlich, als deute sich hier im vierten Teil
ein Meinungsumschwung an. War der Oberst zunächst ganz eindeutig gegen die Schiffer gewesen, so schien er im Laufe seines Berichts zunehmend mehr
Mitgefühl für diese vom Schicksal verdammte Mannschaft zu empfinden.
Genau wie Morse.
Es war wirklich eine
faszinierende Geschichte! Deshalb war es eigentlich gar nicht weiter
erstaunlich, daß der Oberst unter den vielen hundert Prozessen im vergangenen
Jahrhundert ausgerechnet diesen hier wieder ausgegraben hatte, denn hier hatte
er mühelos alle Facetten gefunden, die ein großes Publikum anzusprechen
vermochten, sobald erste Details an die Öffentlichkeit gedrungen waren. Im
Grunde genommen war es, dachte Morse, die uralte, stets aufs neue
interessierende Geschichte von der Schönen und dem Biest.
So jedenfalls hatte es allem
Anschein nach der Oberst gesehen.
Für Morse, der schon lange auf
die billigen Tröstungen konventionellen Glaubens verzichtete, schien die den
armen Sündern angebotene Möglichkeit, das Heilige Sakrament zu empfangen —
bevor sie dann mittels des Stricks brutal umgebracht wurden — , in krassem
Widerspruch zu stehen zu der Tatsache, daß man ihnen hinterher die Bestattung
in «geweihtem Boden» verweigerte.
Morse erinnerte sich plötzlich
wieder an einen Abschnitt aus Hardys Roman Tess of the D’Urbervilles, ein Buch, das ihn jahrelang begleitet hatte. Hardy erzählte dort, wie Tess ihr
uneheliches Kind begräbt, und zwar dort, wo «die Nesseln wachsen; und wo all
die ungetauften Kinder, Alkoholiker, Selbstmörder und andere...» wie hieß es
doch noch? Ja, natürlich! «...die anderen vermeintlich Verdammten zur letzten
Ruhe gebettet liegen». Soso. Da hatte der Oberst also bei Hardy abgeschrieben.
Er hätte die Formulierung ruhig in Anführungszeichen setzen können, der alte
Schummler. Ob er noch mehr von Hardy und anderen abgeschrieben hatte?
Vielleicht sogar unbewußt?
Sollte er es nachprüfen?
Auch die «schwimmende Kirche»
interessierte Morse sehr, da er vor kurzem erst in der Oxford Times einen Artikel darüber gelesen hatte. Er glaubte sich zu erinnern, daß das
Schiff, auf dem die Kirche untergebracht gewesen war, obwohl die Oxford-Company
regelmäßig Geld zu ihrer Instandhaltung gezahlt hatte, irgendwann gesunken war
und man
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