Mord am Oxford-Kanal
später statt dessen ganz in der Nähe auf dem Lande, und zwar in der
Hythe Bridge Street, eine Kirche für die Schiffer errichtet hatte. Und diese
Kirche — und das war der Anlaß für den Artikel gewesen — war nun gerade
modernisiert und mit großen Doppelfenstern versehen worden.
Morse wußte nicht mehr genau,
wer von der Mannschaft verheiratet, wer ledig gewesen war, aber es war doch
irgendwie tröstlich zu wissen, daß Oldfields Frau ihrem Mann, ganz wie sie es
bei der Eheschließung versprochen hatte, in guten wie in schlechten Tagen
beigestanden hatte. Wobei die schlechten Tage wirklich verdammt schlecht
gewesen waren, dachte Morse. Es hätte ihn interessiert, auch über ihr Leben
etwas zu erfahren. Wenn er damals Journalist gewesen wäre, so hätte er sie
befragt. Ob sie den Unschuldsbeteuerungen ihres Mannes, zuletzt auf jener
Karte, die er am Fuß des Galgens dem Gefängnisgeistlichen anvertraut hatte,
geglaubt hatte? Insgesamt hatte sie nur eine kleine Rolle in dem Drama gehabt,
nur ein paar Auftritte, von denen der erste in einer Ohnmacht endete. Morse
nickte betrübt. Heutzutage wäre die arme Frau von einer Heerschar von
Sensationsreportern verfolgt worden, die versucht hätten, sie über alles
mögliche auszuquetschen, ob er geschnarcht hätte, ob er tätowiert gewesen sei
und ob, wo, wie oft sie miteinander geschlafen hätten, wie er sie denn so
begrüßt hätte, wenn er von einer seiner früheren Mordtaten zu ihr zurückgekehrt
sei.
Wir leben in einer Zeit des
moralischen Verfalls, dachte Morse. Doch im Grunde wußte er, daß eine solche
Einschätzung Unsinn war. Im Grunde war er ja selbst auch nicht besser als die
sensationslüsternen Reporter, die er in seiner Phantasie auf Mrs. Oldfields
Spuren gesehen hatte. Er hatte sich doch selbst eben gerade erst vorgestellt,
daß er sie nur zu gern interviewt hätte.
Aber dieser Wunsch ließ sich ja
nun schließlich nicht mehr realisieren. Alle der damals Beteiligten waren
inzwischen längst tot. Plötzlich durchzuckte Morse ein Gedanke. Was war mit
Samuel Carters Reisen und Gespräche auf den Antipoden. Da ließ sich
vielleicht doch noch etwas Neues entdecken. Und (der Gedanke freute Morse
außerordentlich) in einer der drei oder vier großen Bibliotheken des
Königreichs würde das Buch ganz gewiß aufzutreiben sein, und die erste
Anlaufstelle war natürlich die Bodleian Library.
Lewis hatte bereits seinen
Auftrag erhalten, und seine zweite Feldforscherin war nun auch bald mit Arbeit
mehr als genug eingedeckt: erst Jackson’s Oxford Journal und nun auch
noch das Buch von Carter. Ob der Oberst es wohl in Händen gehabt hatte? Vermutlich,
dachte Morse — und war ein wenig enttäuscht.
Am Freitagabend kamen Sergeant
Lewis und Christine Greenaway zu Besuch, die letztere hatte eigentlich eine
Einladung zu einem Cocktail-Empfang am Wellington Square gehabt, den sie in
letzter Minute abgesagt hatte. Nein, sein neuer Auftrag sei ihr nicht lästig.
Ganz im Gegenteil.
Morse war glücklich.
Kapitel 20
Diese
hassenswerten Leute, die sich Quellenforscher nennen
J.
M. Barrie, My Lad y Nicotine
Wie immer, wenn sie samstags
nach Oxford hinein wollte, fuhr Christine Greenaway mit dem Wagen zum
Pear-Tree-Kreisverkehr und nahm von dort aus den Bus. In Cornmarket stieg sie
aus, ging in Richtung Carfax, wandte sich dort nach rechts in die Queen’s
Street, gelangte durch eine belebte Fußgängerzone zum Bonn Square, passierte
dort das Kaufhaus Selfridges und stand schließlich vor dem Eingang der Westgate
Central Library. Morse hatte gestern abend die Vermutung geäußert, daß es für
sie in ihrer Position doch das reinste Kinderspiel sein müsse, den Mikrofiche
jeder beliebigen englischen Zeitung herauszusuchen, und daß sie darüber hinaus
in ihrer Bibliothek doch sicher die nötigen Einrichtungen besäßen und sie
selbst über die erforderlichen Kenntnisse verfüge, die entsprechenden Zeitungen
auch zu lesen. Doch da hatte er sich gründlich getäuscht. Sie hatte ihn jedoch
in seinem Glauben gelassen, ihm weder erzählt, daß die Bodleian Library
keineswegs sämtliche, jemals im 19. Jahrhundert erschienenen englischen
Zeitungen komplett auf Mikrofiche hatte, und daß, darüber hinaus, sie selbst zu
jenen bedauernswerten Leuten gehörte, gegen die sich alle elektrischen Geräte
irgendwie verschworen zu haben schienen. Sie hatte ihm, als er sie gefragt
hatte, nur einfach zugestimmt, ja, es sei vermutlich ganz
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