Mord an Bord: Roman (Allemand) (German Edition)
fürwahr. Ich hatte meinen lange verborgenen Flaschengeist rausgelassen. Und er hatte sich sofort mit einem anderen giftigen Flaschengeist gepaart. Jetzt konnte ich ihn nicht mehr zurückpfeifen.
Er war entwichen.
Nach der Messe schritten Rüdiger und ich wie immer durch die schmalen Straßen nach Hause. Von der Reise erzählte ich nicht viel. Und Rüdiger erzählte auch nicht, wie es bei ihm gewesen war. Ich wollte ihm das Weihnachtsfest nicht verderben. Nach Weihnachten oder nach Silvester, da wollte ich ihm schon sagen, daß wir uns trennen würden. Und daß mein Leben vermutlich in Neuseeland weitergehen würde. Wir schritten schweigend nebeneinander her. Feuchte Schneeflocken regneten uns entgegen.
Es war Heiligabend, nachmittags um drei. Ich hatte endlos lange gepennt, um meinen Jetlag endlich zu überwinden. Abends würden wie immer die Eltern von Rüdiger kommen. Und seine spießigen Tanten und Onkel. Der Baum war bereits geschmückt. Rüdiger wollte, daß ich noch alle Geschenke für die spießigen Tanten und Onkel einpackte. »Die erwarten das so«, sagte er.
»Die erwarten das so!« äffte ich ihn nach.
»Du hast dich verändert«, sagte Rüdiger.
»Du dich leider nicht«, giftete ich. Und dann packte ich die ganzen spießigen Geschenke ein. Von Tchibo irgendwelche Untersetzer und Rheumaunterwäsche und Wecker und Nachttischleuchten und Heizdecken und Servierplatten. Das alles hatte Rüdiger in meinem Arbeitszimmer abgeladen. Wie immer. Diese Weihnachtsgeschenke gaben mir den Rest. Ich wollte RAUS aus dieser erdrückenden Bürgerlichkeit! Mir liefen die Tränen auf das tannennadelgrüne Geschenkpapier, während ich stundenlang diese nützlichen, aber lieblos ausgewählten Pflichtgeschenke einpackte.
Indessen wühlte sich Rüdiger durch die Weihnachtspost. Wieder spürte ich diesen zwanghaften Drang zum Weglaufen. Ich warf das Geschenkpapier auf die Erde und zog mich um. Nichts wie raus und joggen! Ich schnappte mir das Weiterbildungsseminar aus dem Rusch-Verlag »Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende«, zog mir die warmen Handschuhe an und machte vor der Haustür meine Dehnübungen. Wie traurig, jetzt mit Handschuhen und Regenweste laufen zu müssen. Vorgestern noch ... in diesem Paradies auf der Coromandel-Halbinsel, wo die Sonne glutrot über dem dunkelblauen Meer aufging ...
»Wir werden über Scheidung reden müssen«, sagte Rüdiger von der Fußmatte aus. Er hatte einen Brief in der Hand.
»Wieso?« Wieso wollte ER über Scheidung reden? ICH wollte über Scheidung reden! Und den Zeitpunkt wollte ich auch bestimmen! Nicht am Heiligen Abend!!
»Du hast mich betrogen«, sagte Rüdiger.
»Quatsch. Fang doch jetzt nicht damit an. Bitte, Rüdiger. Es ist Weihnachten!«
»Du hast es mit einem Schweizer Bänker getrieben. Vor dem ...«, Rüdiger runzelte die Stirn und las angestrengt in dem einseitigen, mit Computer geschriebenen Pamphlet, »... Fickneßstudio.«
Mir wurden die Knie weich. Butterweich. Ich sank auf das Mäuerchen.
»Woher weißt du das?! Rüdiger!! Hast du mein Tagebuch gelesen ...?!«
»Aber das ist nicht alles. Du hast dem Kreuzfahrtdirektor ... Liebesbriefe geschrieben. Alberne Reime.«
Mein Herz polterte und raste.
Rüdiger ließ den Brief sinken. »Frohe Weihnachten!«
Das war typisch Rüdiger. Er liebte es, sich selbst zu bemitleiden. Man MUSS doch nicht »Frohe Weihnachten« sagen, wenn man gerade erfährt, daß die eigene Ehefrau einen betrogen hat!
»Gib her!« Ich riß dem geschockten Rüdiger den Wisch aus der Hand.
Zitternd vor Kälte und vor Empörung und vor Scham las ich den widerlichen Brief.
»Hamburg, 23. Dezember«. Suchender Blick auf die Unterschrift. Es gab keine. Ein ANONYMER Brief!!
»Sehr geehrter Herr Meier«, stand da mit Computer geschrieben. »Man kennt Sie als einen hervorragenden Kirchenmusiker, der weit über die Grenzen von Geilenkirchen hinaus bekannt ist. Bekannte von uns wiederum spielten jahrelang in Ihrem Orchester mit. Wir waren immer gern andächtige Besucher Ihrer Kirchenkonzerte. Um so größer war unsere freudige Überraschung, Ihre Frau Burkharda als Künstlerin auf der Dezemberreise der ›MS Blaublut‹ von Australien nach Neuseeland zu erleben!«
Mir polterte das Herz so laut, daß ich das Blut in meinen Ohren dröhnen hörte.
»Sie ist wirklich eine hervorragende, vielseitige Künstlerin. Abgesehen davon, daß sie wunderbar singen kann, hat sie auch – in altbewährter Manier – einen Chor an Bord
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