Mord au chocolat
einfach nur an sich abprallen lassen. Schon immer hatte ich gehofft, ich würde mich zu einer solchen Leiterin entwickeln, wenn ich wie durch ein Wunder mein Bakkalaureat und dann meinen Magister mache und schließlich eine so erlauchte Position erringe – obwohl mir der Himmel helfen möge, wenn es jemals dazu kommt.
Andere verwandeln sich in Bürokraten wie Owen.
Irgendwie habe ich das Gefühl, das wird auch mit mir passieren. Allein schon der Anblick dieser schmutzigen Radspuren von den Rollerblades auf dem Marmorboden erhöht meinen Blutdruck. Wenn Julio morgen früh von seinem Urlaub zurückkommt und das sieht, wird er einen Schlaganfall erleiden.
Dann erinnere ich mich, dass er gar nicht erscheinen wird. Wegen des Streiks.
»So, Sebastian«, sage ich, als ich ihm das unterschriebene Gästeformular gebe. »Schlafen Sie sich aus.«
»Wow«, murmelt er und inspiziert das Papier. In diesem Moment sieht er nicht wie ein Mordverdächtiger und der Anführer einer Studentenrevolution aus, sondern wie ein verängstigter Junge in einer Situation, die ihm über den Kopf wächst. »Vielen Dank, Heather. Sie ahnen gar nicht, wie viel mir das bedeutet. Klar, Sarah hat Ihnen erzählt, dass ich im Augenblick kein Quartier habe. Meine Eltern haben ein Hotelzimmer für mich gebucht. Aber ich wohne lieber bei Sarah. Wie wichtig sie für mich ist, das habe ich erst neulich gemerkt.«
Verlegen starrt Sarah die Spitzen ihrer High Heels an, errötet hinreißend und scheint Sebastians bewundernden Blick nicht zu bemerken. Ich fühle mich hin und
her gerissen zwischen dem Bedürfnis, gequält zu stöhnen, und dem Impuls, die beiden zu umarmen. Wie süß sie sind …
Dann steigt noch eine dritte Emotion in mir auf – Neid. Das will ich auch, was die haben.
Eine Zeit lang dachte ich, ich hätte es – gewissermaßen. Glücklicherweise erkannte ich meinen Irrtum. Gerade noch rechtzeitig. Nicht, dass ich ernsthaft in die Gefahr geraten wäre, eine Dummheit zu machen, zum Beispiel zu heiraten oder im Sommer dem Appalachian Trail zu folgen.
Trotzdem, was die beiden haben, möchte ich auch genießen. Eines Tages.
Vorerst begnüge ich mich mit dem Rat, den ich ihnen missgelaunt gebe. »Denkt daran – Safer Sex. Und Sarah, Sie sind immer noch im Dienst. Wenn die Beratungsstelle für die Studentenheimbewohner anruft, müssen Sie sich melden. Ganz egal, was Sie gerade tun.«
In Sarahs Wangen vertieft sich die Röte. »Selbstverständlich, Heather«, verspricht sie dem Marmorboden.
Als eine Studentin meinen Namen hört, holt sie tief Luft und läuft zu mir. »Sind Sie Heather Wells?«
Mit einem leidvollen Blick nach oben bitte ich um göttlichen Beistand. »Ja. Warum?«
»O mein Gott, ich weiß, das Büro für die Leitung der Fischer Hall ist schon geschlossen. Aber mein Vetter ist ganz plötzlich aufgetaucht, das schwöre ich, und ich brauche ein Gästeformular. Wenn Sie eine Ausnahme machen könnten, nur dieses eine Mal? Dafür wäre ich Ihnen ewig dankbar...«
Entschlossen zeige ich auf Sarah. »Wenden Sie sich an dieses Mädchen, ich bin nicht mehr da.«
Dann flüchte ich aus dem Haus in die frische Abendluft. Im bläulichen Licht, das die Sicherheitslampe verströmt, schaue ich zum Park hinüber und suche die kleine Schar der Drogenqualmer zu ignorieren, die bei meinem Anblick ihre Stimmen senken. Zweifellos halten sie mich für einen Polizeispitzel. Inzwischen schreien die studentischen Demonstranten: »Jetzt gründen wir eine Gewerkschaft! Nehmt euch in Acht vor uns!« Ziemlich vollmundig. Sie scheinen sich zu amüsieren.
Welch ein schöner Abend – zu früh, um schon heimzugehen. Andererseits, nachdem mein Dad ausgezogen ist, muss ich den Hund ausführen, ganz zu schweigen von einem halb bewusstlosen Privatdetektiv, für den ich verantwortlich bin.
Was macht ein normales Single-Mädchen in New York City – jemand wie Muffy? Zweifellos geht sie mit Freundinnen Cocktails trinken. Natürlich habe ich keine Freundinnen. Nun, das stimmt nicht ganz. Aber meine Single-Freundin hat alle Hände voll zu tun, weil sie einem unserer Mitarbeiter und seinen Kids nachstellt. Und meine verheiratete Freundin wird dermaßen von Hormonen gesteuert, dass sie mir keinen Spaß mehr macht.
Unwillkürlich schaue ich zum Ryder-Lieferwagen hinüber, der immer noch unten an der Straße steht.
Was wird mit Muffy passieren, wenn der Streik vorbei ist? Irgendwann muss er ein Ende nehmen. Der Präsident wird sich nicht allzu lange mit einer
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