Mord auf Frauenchiemsee - Oberbayern Krimi
werden. Aber da gab es noch jemanden, der herumschlich, und dieser Jemand wollte auf keinen Fall gesehen werden. Althea musste an ihre eigene Vergangenheit denken. Nonne zu werden hatte damals zu keiner Minute auf ihrem Plan gestanden.
Sie beeilte sich nicht gerade. Die Hände zwischen bleichen Knochen zu vergraben, auf der Suche nach irgendwelchen Hinterlassenschaften, konnte einem nicht gefallen.
Es war eines der wenigen Stücke in der Kirche, die ihr unheimlich waren – der kleine, mit Knöchelchen gefasste Schrein, in dem sich Irmengards Schädel befand. Den würde sie aber überwinden müssen, wenn sie an den Zinnkasten dahinter wollte. Die restlichen Knochen waren unter dem Altar der Irmengard-Kapelle, hinter dem Hochaltar des Münsters, in einem Kristallschrein untergebracht.
Zwischen den Votivtafeln, Dankbilder für die Erhörung eines Gebetes, befand sich der Haken, doch an ihm hing kein Schlüssel.
Das Altargitter stand offen.
Althea sah den Kerzenschein. Jemand betete. Die Gestalt war keine der Schwestern. Zeta bringe sie in Verlegenheit, hatte sie gerade noch gesagt, aber jetzt wurde daraus etwas mehr, denn Althea schaute genau hin, und ihr entging meist nicht viel. Und da kniete Dr. Seidel, der Archivar, der eigentlich im Gästehaus untergebracht war und hier zu nachtschlafender Stunde nichts verloren hatte.
Man hätte denken können, Althea und er hätten sich heimlich verabredet. Die Priorin hatte kein Gespür für zufällige Zusammentreffen. Sie konnte ziemlich misstrauisch sein.
Gerade als Althea auf sich aufmerksam machen wollte, stand Seidel auf und trat auf den Altar zu.
Schnell verbarg sie sich hinter einem der Pfeiler. Er streckte die Hand aus und öffnete den Zinnkasten. Althea entschied in Sekundenschnelle, abzuwarten, ob er etwas herausnehmen würde, und was dieses Etwas war. Dann hätte der Archivar Pech, und sie würde laut schreiend auf ihn losgehen. Natürlich hätte sie zu spät bemerkt, dass er kein Einbrecher war, und selbstverständlich täte es ihr leid, ihn verletzt zu haben.
Sie legte sich die Szene zurecht, wie sie sich aus dem Dunkeln auf ihn stürzte, aber Seidel hatte nur eines der gefassten Knöchelchen in der Hand, das er jetzt in der Brusttasche seines Hemdes verschwinden ließ. Was war das denn? Althea schüttelte sich. Der Kerl war ein Verehrer der Seligen, und jetzt entführte er einen ihrer Knochen? »Wieso muss ausgerechnet ich das beobachten?«
War die Anzahl der Gebeine bekannt, und wer wusste sie? Althea würde sich bei nächster Gelegenheit dezent danach erkundigen.
Beten und stehlen – ein Mann der Kirche.
Althea wartete nicht ab, bis Seidel sich mit dem Knöchelchen davonmachte, sonst würde der Archivar die Trenntür abschließen, und sie wäre eingesperrt.
Sie tauchte hinter dem Pfeiler hervor. Wenn Seidel sich umdrehte, würde er nur ein wehendes Gewand sehen. Wehend, weil sie rennen musste; der Äbtissinnengang bot keinerlei Deckung.
Althea erreichte die Treppe und hoffte, dass nicht ausgerechnet jetzt eine der Schwestern herunterkommen und das Licht einschalten würde. Sie setzte sich auf eine Stufe und drückte sich ans Geländer.
Der Archivar spazierte unerschrocken zur Pforte hinaus, er hatte einen Schlüssel. Natürlich hatte er den. Von Jadwiga, die ihm das Archiv zugänglich gemacht hatte, um den Erzbischof im nicht so fernen München und Freising zu besänftigen. Althea stieß die angehaltene Luft aus. Kurz überlegte sie, ob sie zurückgehen sollte. Aber während ihr Kopf noch dachte, hatten sich ihre Füße schon wieder in Bewegung gesetzt.
Die Mitschwestern schliefen wahrscheinlich selig in ihren Betten, während Althea zurücklief. Es kam ihr vor, als hätten sich die Mienen der Äbtissinnen verändert. Jetzt sahen sie alle miteinander ärgerlich auf sie herab.
Althea nahm den Schlüssel vom Haken und sperrte das Trenngitter auf. Dann zündete sie die Kerzen am Altar wieder an.
Sie hatte ihre Handschuhe angezogen, was sie wie eine Diebin aussehen ließ. Dabei hatte sie nicht die Absicht, etwas zu nehmen, zumindest nicht, wenn sie die Bücher hier nicht fand. Seidel hatte keinen Handschutz getragen, und somit mussten seine Fingerabdrücke auf dem Zinnkasten sein.
In Gedanken bat sie um Vergebung dafür, dass sie gleich etwas durcheinanderbringen würde, aber als Erster hatte der Knochendieb seine Hände dort drin gehabt.
Althea beugte sich über den Altar, doch so konnte sie nicht sehen, was sich alles im Zinnkasten befand.
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