Mord im Bergwald
begannen Zillys Packtaschen auf der linken Seite zu beladen. Der Heilpraktiker hatte sich die andere Seite vorgenommen, als sein Handy läutete. Er ging dran. Die Person, die angerufen hatte, schien ihn ziemlich lange zuzutexten. Er blieb lange stumm und stieß dann nur kurze Fragen aus: »Seit wann? Wo? Warum? Und wieso erfahr ich das erst jetzt?«
Wenig später erklärte er den Umstehenden mit bebender Stimme: »Mein Sohn ist verschwunden, sagt meine Frau. Schon seit heute früh. Und er war nicht bei seinem Freund, zu dem er eigentlich wollte. Er ist mit dem Rad los, aber nie angekommen.«
Vitus war näher getreten. »Wie oid is er denn?«
»Zwölf. Kevin ist zwölf.«
Kevin! Man hüte sich vor Kindern, die Kevin heißen, dachte Irmi.
»Dann is er ja nimma so kloa«, meinte Vitus. »Habts ihr alle Spezln ogrufen? Mei, des is a Lausbua, der kimmt scho wieder.«
Der Heilpraktiker japste. »Was heißt da Lausbub! Kevin hat seine klaren Zeiten. Pünktlichkeit ist eine Tugend in unserer Familie. Und dann, in der heutigen Zeit, man weiß doch ...« Er brach ab.
»Jetzt wollen wir mal nicht das Schlimmste annehmen«, sagte Irmi beruhigend. Ein verschwundener Bub fehlte ja gerade noch. »Wahrscheinlich hat er die Zeit vergessen. Hat er ein Handy?«
»Ja, aber er geht nicht dran, sagt meine Frau.«
»Hat er einen besten Freund mit Handy? Man könnte den mal anrufen und nachfragen, ob die zusammen unterwegs sind?«, schlug die Lehrerin vor. Irmi sah sie erstaunt an.
»Das hat meine Frau schon gemacht. Keiner weiß, wo Kevin ist. Sein bester Freund Jason auch nicht.«
Hießen Kinder dieser Tage wirklich Jason und Kevin?, fragte sich Irmi und wandte sich an den Heilpraktiker: »Was ist mit Oma oder Opa?«
»Die sind im Rheinland. Da hat meine Frau aber auch angerufen.« Der Mann war wirklich verzweifelt. Plötzlich rief er: »Ich hab's! Er hat ein GPS. Der Junge ist doch ständig beim Geocaching! Ich hab auch eins.«
»Beim wos?«, fragte Vitus. Auch Irmi hatte das Wort noch nie gehört. Das war sicher eine Bildungslücke.
»Geocaching, Schatzsuche per GPS«, erklärte die Grundschullehrerin. »Man sucht per GPS bestimmte Punkte, wo dann etwas versteckt ist. Das ist der Cache. Man muss sich in ein Logbuch einschreiben oder Fragen beantworten oder auch mit einer Kamera ein Bild von sich selbst schießen. Eben eine moderne Schnitzeljagd. Kinder lieben das.«
Die Lehrerin schien in der modernen Welt verankert. Anders als sie. Irmi spürte das heute schon zum zweiten Mal. Wer war Bruce Darnell? Was war Geocaching? Die Erdkugel drehte sich schneller. Sie kam nicht mehr mit. Erst kürzlich hatte sie noch eine Begegnung der ganz anderen Art gehabt. In ihrem Büro hatte es einen Luftangriff gegeben. Surrende Mutanten hatten von ihm Besitz ergriffen. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie begriffen hatte, dass es sich um Miniaturhubschrauber handelte, irrwitzige Flugderwische, von Menschenhand gesteuert. Das sei der Megatrend, hatte ihr der junge Kollege erklärt. Ganze Führungsetagen in großen Firmen seien besessen davon. Was war mit dieser Welt nur geschehen? Und nun also Geocaching.
»Ja und? Was nutzt uns das?«, fragte Irmi.
»Man könnte ihn orten«, sagte der Heilpraktiker.
»Nicht das GPS«, korrigierte die Lehrerin. »Das sendet ja nicht. Orten können wir nur das Handy. Du hast doch gesagt, er ginge nicht ran. Wenn das Handy aber eingeschaltet ist, können wir ihn orten.«
Irmi war beeindruckt und ließ sich Kevins Nummer geben, griff zu ihrem Handy und rief die Kollegen an. Der Hase war erreichbar. Und er bot sich widerwillig an, das Handy orten zu lassen. »Ruf mich zurück, wenn du was hast. So schnell es geht.«
4
Da saßen sie nun. Iris von Gstalden hatte sich einen Veltliner bestellt, den sie mit Vitus teilte. Die Zeit zog sich so zäh wie Gummi.
Endlich kam der erlösende Anruf. Irmi hörte aufmerksam zu, dann machte sie sich Notizen.
»Und?!« Der Heilpraktiker schrie fast.
»Sie haben ihn. Und das Seltsame ist: Er muss irgendwo hier oben sein.«
»Wieso sollte der Bub hier oben sein?«, fragte Iris von Gstalden. Und für einen Sekundenbruchteil schienen sie alle denselben grauenvollen Gedanken zu haben: Was, wenn die Leichenteile von Kevin stammten? Niemand sprach ein Wort.
Irmi atmete tief durch und gab etwas preis, was sie eigentlich gar nicht weitergeben durfte: »Der Tote, von dem die Leichenteile stammen, ist älter. Das wissen wir aus der Pathologie.«
»Danke«, sagte der
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