Mord im Bergwald
Heilpraktiker. »Kevin wollte unbedingt mit hier herauf. Was, wenn er das auf eigene Faust gemacht hat und irgendwo abgestürzt ist?«
»Jetzt regts eich ned auf. Immer mit der Ruh. Dem Buam is nix passiert. Des spür i doch.« Es war seltsam. Irmi glaubte Vitus, und die anderen schienen das auch zu tun.
»Jetzt passt mal auf«, meinte Irmi. »Ihr bleibt jetzt mal alle hier. Vitus und Herr ...« Sie stockte, nun war ihr auch noch der Name des Heilpraktikers entfallen, obwohl der natürlich in den Protokollen stand.
»Seibold. Werner Seibold.« Der Mann zitterte richtig.
»Vitus und Herr Seibold kommen mit. Können Sie in Ihr GPS die Koordinaten von Kevins Standort eingeben?«
Er wand sich ein wenig. »Nein, äh ... ich hatte Kevin immer versprochen, äh ... ich ...«
»Ich kann das«, sagte Katja schlicht.
Da steckte offenbar weitaus mehr in der Grundschullehrerin, als Irmi auf den ersten Blick angenommen hatte. Auch von Vitus kam ein anerkennendes »Sauber, Katl«.
Sie ließ sich das Gerät geben, und was für Irmi ein Buch mit sieben Siegeln war, ging der jungen Frau rasch von der Hand.
»Gehen Sie mit?«, fragte Irmi. »Ich glaube, Sie beherrschen das am besten!«
»Gerne, ich bin bloß nicht so gut zu Fuß.« Katjas Lächeln war eine Mischung aus Jungmädchennaivität und entwaffnender Ehrlichkeit, die Irmi berührte.
»Werd scho«, brummte Vitus aufmunternd und schulterte einen Rucksack, in dem sich, wie er erklärte, Sanitätsausrüstung befand – »bloß falls was wär«.
Katja hatte inzwischen das GPS in der Hand und meinte: »Da lang.«
Sie folgten dem Weg bergab, bis in eine scharfe Spitzkehre, wo der Weg geradeaus in den Talschluss führte und der Steig zum Soiernhaus begann. Katja aber navigierte nach links Richtung Vorderriß.
»Des is der Weg in die Eng. Nach Vorderriß. Was, wenn der Bua von do aui is?«, sagte Vitus mehr zu sich selbst.
Schweigend stapften sie weiter, und der Weg ging in eine Spur über, die von einem Hangrutsch unterbrochen war. Ein Schild besagte, dass Radfahrer hier absteigen sollten. Irmi fragte sich ernsthaft, wer wohl auf die dämliche Idee kam, hier Rad zu fahren.
»Wir sind ganz nahe«, meinte Katja, die wieder alle Mühe hatte, die Füße richtig zu setzen. Schließlich zeigte das GPS nur noch zwanzig Meter an.
»Kevin!«, rief Seibold, »Kevin!«
Sie lauschten seinen Rufen, die sich irgendwo am Fels brachen und ein Echo zurückwarfen. Es war gespenstisch. Eine Wolke hatte die Sonne verdunkelt, Irmi sah zum Himmel. Da schob sich ein grauschwarzes Wolkengebirge heran. Grau in allen Schattierungen, die Wolken ballten sich zusammen. Weit weg war der erste Donner zu hören.
Vitus hatte die Stirn gerunzelt. »Kevin!«, rief er. »Kevin, mir san Freunde. Dei Vater is ned bös auf di.«
Wieder dieses verzerrte Echo.
»Hier!« Ein dünnes Stimmchen.
»Kevin!« Seibolds Stimme explodierte.
Vitus machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Bleibts!«
Die Stimme war von unten gekommen, dort, wo der Fischbach durch ein enges Tal floss. Vitus verschwand hinter ein paar Büschen, die sich an die Schutthalde krallten. Irmis Herz klopfte so laut, dass sie meinte, dieses Geräusch müsse auch ein Echo ergeben.
Minuten später raschelte es in den Büschen. Vitus hatte einen Jungen an der Hand, der mit seiner Brille wie Harry Potter aussah und für einen Zwölfjährigen ziemlich klein war. Seibold stürzte zu ihm, sank auf die Knie, umarmte den Bub und heulte wie ein Schlosshund. Auch dem Jungen kullerten ein paar Tränchen die Wangen hinab, aber er wirkte erstaunlich ruhig. Irmi beobachtete ihn genauer. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Er schien unter Schock zu stehen.
Als sich Seibold von dem Jungen gelöst hatte, lächelte sie Kevin an. »Hallo, Kevin, alles klar bei dir?«
Der Junge reagierte nicht, er war wie erstarrt.
»Bist du ganz alloa da auig'stiegn?«, fragte Vitus.
Der Bub nickte.
»Respekt, Bua. Dass du des so leicht g'schafft hast, des san ja doch a paar Meter gwesn! Bist ja doch a guter Sportler!«
Seibold wollte etwas sagen, aber Irmi stoppte ihn mit einer Handbewegung und einem warnenden Blick. Der Junge lächelte nun ein sehr zaghaftes Lachen. Er suchte Vitus' Blick.
»Hast du mit dem GPS navigiert?«, fragte Irmi.
Der Junge nickte wieder.
»Respekt!«, meinte Vitus nochmal. »Aber ganz hast uns ned troffn?«
Er formulierte das nicht als Vorwurf, sondern so, als frage er aus reinem Interesse. Irmi hätte Vitus küssen können und hätte
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