Mord im Garten des Sokrates
räusperte sich geschmeichelt. «Für die Jüngeren geht es um die Gefahr, die im Tod Perianders liegt. Nur wenn der Täter schnell gefasst wird, kann der Mord nicht zum Vorwand für einen oligarchischen Umsturz genommen werden. Und den fürchten wir jeden Tag. Du siehst, wir sind mit Alkibiades ganz einer Meinung.»
Ich zog die Kopie des Pamphlets aus meinem Gewand und reichte Thrasybulos die Rolle.
«Kennst du das?», fragte ich ihn, während er las. Er ließ sich Zeit und dachte nach.
« – Der Staat der Athener …» antwortete er schließlich, «das müsste der Titel sein. Ich habe von der Schrift gehört, sie aber noch nie zu Gesicht bekommen. Das Pamphlet kursiert bei den Aristokraten. Sie geben es sich im Geheimen weiter und zitieren bei ihren Treffen und Gelagen daraus. Es ist eine Art Bekenntnisschrift. Sie schwören sogar auf das Buch.» Er gab mir die Schriftrolle zurück. «Mehr weiß ich nicht.»
Zu meiner Überraschung fragte er weder nach, woher ich die Rolle hatte, noch, ob sie etwas mit Perianders Tod zu tun haben könnte. Irgendetwas sagte mir aber, dass er die Antworten auf diese Fragen vielleicht schon kannte.
Es war dunkel geworden. Teka kam mit einem Fidibus heraus und entzündete die Lampe auf dem Tisch und die Laterne am Baum. Dann fragte sie, ob sie uns noch etwas bringen solle. Ich bat um einen Krug Wasser. Im Licht der kleinen Flammen wurden die Nachtfalter unruhig. Auf unserem Dach saß ein Sandkopfvogel und sang sein Abendlied.
«Zwei Dinge möchte ich von euch noch wissen», setzte ich die Unterhaltung fort, nachdem Teka das Wasser gebracht und sich verabschiedet hatte. «Erstens: Was wisst ihr über Anaxos?»
«Und zweitens?», fragte Thrasybulos.
«Was hat es mit dem persischen Handelschiff auf sich, das in unserem Hafen vor Anker liegt?»
Wieder ließ Thrasybulos sich Zeit, bevor er antwortete. Er war kein Mensch, der unbedacht sprach.
«Über das persische Handelsschiff wissen wir nichts weiter, als dass es da ist. Selbst im Strategion ist man überrascht. Sogar derjenige, der es am besten wissen müsste, weiß von nichts. Und das ist – damit komme ich zu deiner ersten Frage – Anaxos. Er ist der Herr und Wächter der Athener Spitzel, wusstest du das nicht?»
«Ich dachte es mir.»
«Anaxos ist über sechzig Jahre alt», fuhr Thrasybulos fort, «und hält sich ganz im Verborgenen. Außerhalb des Strategions weiß man kaum, dass es ihn gibt. Er steht seit dreißig Jahren immer im Dienste der Polis. Er überwacht und befehligt die Spione: solche, die Feinde draußen, und solche, die Feinde in der Stadt selbst auskundschaften, ausspähen und bespitzeln. Er weiß viel; dreißig Jahre sind eine lange Zeit. Er hat schon Perikles gedient und jedem Strategen und Führer nach ihm. In der Wahl seiner Herren ist er nicht sehr zimperlich.»
Thrasybulos legte eine kurze Pause ein und goss sich Wasser in seinen Becher. Mir viel auf, dass er den Wein nicht angerührt hatte. Mein Vater nickte leicht, aber ich konnte die Geste nicht deuten. Sein Gesicht schien nachdenklich und traurig im Schein der flackernden Lampe. Die Nacht hatte ihre finsteren Schwingen nun vollkommen über uns gebreitet, der Sandvogel war unmerklich verstummt.
«Anaxos lebt und arbeitet im Strategion», berichtete Thrasybulos weiter, «er verlässt es kaum. Gerüchten zufolge hat er ein gewaltiges Archiv mit Schriftrollen angelegt, in welchem sich Eintragungen über fast jeden Athener finden – auch über mich und dich –, aber ich glaube das nicht. Immerhin eines steht fest: Mit Anaxos muss man immer rechnen, wenn man auch nie weiß, was er tun und was er lassen wird. Nimm dich vor ihm in Acht, Nikomachos.»
«Er ist nicht der Einzige, vor dem ich mich in Acht nehmen muss», antwortete ich unwillkürlich.
Thrasybulos nickte. «Nein, ganz sicher nicht.»
Unser Gast blieb nicht mehr lange. Nachdem er noch ein paar letzte Fragen beantwortet hatte, verließ er uns freundlich und ruhig und ließ mich mit meinem Vater allein.
«Ich hoffe, es geht dir bald wieder besser», verabschiedete er sich und zeigte auf meinen Brustkorb. Offenbar hatte nicht nur mein alter Vater bemerkt, dass ich mir hin und wieder in die Seite gegriffen hatte. Ich lächelte gequält und versicherte Thrasybulos, es sei alles in Ordnung. Er nickte liebenswürdig und ging.
Vater und ich waren kaum allein, als er mich schon aufgeregt fragte, was mir geschehen sei. Ich brachte er nicht fertig, ihn anzulügen und den Überfall zu verschweigen, versuchte die
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