Mord im Garten des Sokrates
mit einem kleinen Schönheitsfehler vielleicht: Er war unschuldig. Aber das kümmerte ihn nicht. Ich sah Anaxos durch das Fenster in der Schreibstube nach, wie er mit seinem schleppenden Gang über den Kasernenhof schritt. Eine Patrouille junger Bogenschützen lief ihm entgegen. Sie kamen von ihrem Rundgang. Der Staub wirbelte unter ihren Tritten auf. Ich bin sicher, alles, was sie erkannten, war ein alter, gebeugter Mann in einem grauen Chiton, der ihren Weg kreuzte.
«Meinst du nicht, es ist gefährlich, dem Herrn der Spione so offen zu widersprechen?», fragte mich Myson und riss mich damit aus meinen Gedanken.
«Und du, meinst du nicht, es ist gefährlich, es nicht zu tun?», gab ich die Frage zurück, wohl wissend, dass ich ihn mit dieser Bemerkung vor den Kopf stoßen musste. Myson antwortete nicht. Er nickte nur vielsagend, legte die Stirn in Falten und widmete sich wieder seiner Arbeit, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.
Ich drehte mich um und ging zur Zelle zurück. Zu meiner Überraschung grüßte mich das Narbengesicht beinahe respektvoll und ließ mich sofort zu Lysippos. Diesmal versuchte er sogar freundlich zu lächeln, was seinem gezeichneten Gesicht einen halb anrührenden, halb verschlagenen Ausdruck gab. Sicher hatte der Soldat mitangehört, wie sein Herr mich in den höchsten Tönen gelobt hatte. Nun wollte er es sich mit dem zukünftigen Strategen Athens unter keinen Umständen verderben.
In der Zelle fand ich Lysippos in einem erbärmlichen Zustand. Er kauerte in einer Ecke und zitterte. Es war warm in der Zelle, und durch das kleine Fenster fiel ihm das Licht der Sonne ins Gesicht und auf die Brust, trotzdem schlotterte er am ganzen Leib. Sein schmutziger Köper war mit roten Striemen übersäht. Blut tropfte aus den Wunden und verband sich mit dem kalten Schweiß und dem Dreck, der ihm an der Haut klebte. Die Augen, die gestern noch so hasserfüllt gesprüht hatten, glommen kraftlos und leer. Ich sah an ihm hinunter und erstarrte. Sein Bein steckte in einem persischen Schuh. Ich öffnete die Metallröhre und sah nach, was die Nägel angerichtet hatten. Noch hatte Anaxos die Winde zum Glück nicht sehr weit gedreht. Die Nägel hatten die Haut verletzt, aber die Wunden waren kaum einen Fingerbreit tief. Daher rührte sicher der Schrei, den ich gehört hatte, als ich draußen im Flur stand und Anaxos den Gefangenen befragte. Ohne Zweifel war dies aber nur der Anfang der Folter, an deren Ende das Geständnis stehen würde.
Ich nahm den persischen Schuh an mich und verließ die Zelle wieder. Im Hinausgehen entdeckte ich auch die Peitsche, der Lysippos die Striemen an seinem Leib zu verdanken hatte. Sie baumelte am Gürtel des Soldaten, der mich wieder verbindlich grüßte.
«Er foltert einen Athener Bürger und gibt sich noch nicht einmal die Mühe, es vor uns zu verbergen!», platzte es aus mir heraus, als ich wieder in Mysons Schreibstube stand. Myson betrachtete mich zweifelnd. «Und wenn er Metöke wäre, wärst du dann weniger empört?», fragte er.
«Die Folterung eines Metöken ist ebenso verboten wie die Folterung des Vollbürgers. Das weißt du», antwortete ich, aber ich klang für seine Ohren wohl wenig überzeugend, und wirklich frage ich mich heute, da ich diese Geschichte niederschreibe, ob mich dieser persische Schuh wohl ebenso entsetzt hätte, wenn Lysippos kein Vollbürger gewesen wäre, wie ich es war und bin. Ich musste in der Zwischenzeit lernen, dass uns ein Unrecht immer dann besonders groß zu sein scheint, wenn es uns oder unseresgleichen trifft. Nur dann erkennen wir, dass es Momente gibt, da wir unserem Schicksal schutzlos gegenübertreten. Fühlen wir dagegen einen Unterschied zwischen uns und dem Opfer, bedauern wir es kurz und geben ihm gleich darauf selbst die Schuld für das Leid, das ihm widerfährt. Ein Mann wurde nachts auf offener Straße ausgeraubt? Schlimm, aber – unter uns – was ist er um diese Zeit auch unterwegs? Er hatte wohl Geschäfte im Verborgenen zu erledigen. Eine Frau wurde geschändet? Grauenvoll, aber – um ehrlich zu sein – ich fand schon immer, sie gab sich viel zu aufreizend. Ein Metöke wurde gefoltert? Das ist schrecklich, aber die Metöken genießen nun einmal nicht den vollen Schutz der Gesetze.
Myson zog eine Augenbraue hoch. «Es tut mir leid, aber mein Mitleid mit Lysippos hält sich in Grenzen», sagte er und griff sich mit der rechten Hand an die Kehle, um zu zeigen, warum.
Ich war zu aufgebracht, um zu verstehen, was in
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