Mord im Garten des Sokrates
entgegnete ich. «Du erinnerst dich, diese Streitschrift über die Verfassung Athens. Es ist ausgeschlossen, dass dieser alte Säufer mit einem solchen Pamphlet zu tun hat.»
«Ach so», sagte Anaxos und schien beruhigt, «das meinst du. Das ist eine Kleinigkeit, die wir bald klären werden. Er hatte ja nur ein kleines Stück dieses Buches. Wahrscheinlich lag es irgendwo herum, vielleicht hatte Periander es sogar selbst bei sich. Du wirst sehen, so war es.» Gelassen ging Anaxos weiter und zog mich mit sich.
«Aber wieso sollte Lysippos Periander auf eine so langwierige Art töten? Er hätte ihn einfach niederschlagen und ausrauben können. Wieso sollte er ihm den Papyrus in den Rachen strecken und ihn ersticken?», wandte ich ein.
«Aber wer sagt dir denn, dass er ihn damit ersticken wollte?», fragte Anaxos und trat in die Kanzlei, wo Myson an seinem Tisch saß und konzentriert zu arbeiten vorgab. Anaxos grüßte ihn mit einem kurzen Nicken und fuhr fort: «Meine Erfahrung sagt mir, das Ganze hat sich sehr viel einfacher abgespielt, als es dir scheint. Periander war betrunken und – unvorsichtigerweise – nachts allein unterwegs. Lysippos ist ein Räuber und Dieb, der sich irgendwo verkrochen hatte. Vielleicht schlief er, vielleicht lauerte er gerade jemandem wie Periander auf. Dieses leichte Opfer kann er sich nicht entgehen lassen. Er hat ihn gesehen, verfolgt und niedergeschlagen. Beim Durchsuchen der Kleider stellt er fest, dass Periander noch lebt, und fürchtet, er könnte schreien und um Hilfe rufen, also hat er ihn mit irgendetwas geknebelt. Das Erste und Beste, was er findet, ist der Papyrus, den Periander selbst bei sich hat. Er steckt ihn dem jungen Mann in den Mund, er verhakt sich. Periander ist zu betrunken, um den Knebel auszuspucken oder sich überhaupt richtig zu wehren. Lysippos raubt Periander vollständig aus, Periander erstickt unglücklich. Das ist alles. Das ist die ganze Geschichte. Ein böser alter Säufer erschlägt den hoffnungsvollsten jungen Mann. Wie oft passiert dergleichen? Ich habe solche Dinge schon viel zu häufig erlebt, um noch überrascht zu sein … Aber dir, mein Freund Nikomachos, gebührt der Ruhm, diesen Mörder so schnell gefasst und überführt zu haben! Überlege einmal, welche Möglichkeiten dir winken, welche Karriere so ihren Anfang nehmen kann! Ich sehe dich als Archon, als Strategen!» Zufrieden stütze Anaxos sich auf Myson Arbeitstisch.
«Was meinst du, Schreiber?», fragte er ihn unvermittelt. Myson schreckte auf. «Du hast sicher recht, Herr», antwortete er hastig und richtete die Augen zu Boden.
«Siehst du?», sagte Anaxos nun wieder an mich gerichtet. «Auch dein braver Schreiber ist meiner Meinung.» Einen Moment lang blieb ich sprachlos, und ich war mir meiner Sache nicht mehr sicher. Konnte Anaxos recht haben, und Periander war einfach nur von einem Wegelagerer erschlagen worden? Geschah das in Athen nicht allzu oft? Musste der Papyrus etwas bedeuten?
«Aber was ist mit dem Streit?», hörte ich mich fragen, und meine Augen gingen von Myson, der mir wortlos bedeutete, ich solle lieber schweigen, zu Anaxos, dessen Lächeln sich wieder versteinerte.
«Welcher Streit?», fragte er.
«Wir haben eine Zeugin. Ich habe dir von ihr erzählt, eine alte Wäscherin. Sie wohnt am Itonia-Tor. Sie hat einen Streit zwischen zwei Männern gehört und einen Kampf – in der Nacht, als Periander erschlagen wurde.»
Anaxos sah mich nachdenklich an und legte seinen Zeigefinger an die Nase.
«Eine alte Wäscherin, sagst du», meinte er nach einer Weile, «ein armes altes Weib? Keine gute Zeugin, nicht wahr, Myson?» Wieder versicherte sich Anaxos der Zustimmung meines Schreibers, die der ihm auch prompt erteilte. «Gewiss, Herr, keine gute Zeugin.»
«Gut», sagte Anaxos und wandte sich zum Gehen, «dann wollen wir darüber auch nicht mehr sprechen. Lysippos ist der Mörder. Er kommt vor den Areopag. Die Richter werden über ihn entscheiden, so wie es in Athen Sitte und Recht ist.» Er blieb in der Tür stehen und strich die Falten seines Mantels glatt. «Ich muss nun ins Strategion. Es warten noch andere Aufgaben auf mich. Ich unterrichte Alkibiades. Er will Perianders Familie sicher gleich selbst benachrichtigen und ihnen die Botschaft überbringen. Noch vor den Panathenäen steht Lysippos vor Gericht. Ich werde alles in die Wege leiten.»
Mit diesen Worten verließ er uns. Er hatte bekommen, was er wollte: einen Täter, seinen Täter, den besten, den es geben konnte –
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