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Mord im Garten des Sokrates

Mord im Garten des Sokrates

Titel: Mord im Garten des Sokrates Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Berst
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Erst als ich die Narbe sah, wusste ich, wen ich da vor mir hatte.
«Na, heute keine Kutscherarbeiten zu erledigen?», fragte ich ihn. Anstatt zu antworten, grinste er mich nur verächtlich an. Das Mal, das ihn so entstellte, spannte sich wie ein schräges zweites Paar Lippen über dem Mund. Diesmal trug er den Waffenrock der Strategionssoldaten. Das Narbengesicht war einer von Alkibiades’ Männern.
Aus der Zelle hörte ich eine sanfte, eine beinahe wispernde Stimme. Sie war mir nicht fremd. Es war, als schmeichelte sie sich bei ihrem Zuhörer ein, um ihn zu betäuben. Wenn Schlangen sprechen könnten, sie hätten Stimmen wie diese.
«Gib es doch zu», hörte ich sagen, «du hast den Jungen umgebracht. Wir wissen es doch ohnehin. Glaub mir, es wird dir viel besser gehen, wenn du es mir sagst. Ich kann dir helfen.»
Lysippos antwortete nicht. So schnell ließ sich der alte Hund nicht mehr einwickeln, auch nicht von einer noch so einschmeichelnden Stimme. Nicht nachdem er von Myson so schmerzhaft hatte lernen müssen, wie sehr man sich gerade vor der Freundlichkeit in Acht nehmen musste. Stattdessen hörte ich, wie er mit einem hässlichen Geräusch allen Speichel in seinem Rachen vereinte und ausspuckte. Kurz darauf schrie er vor Schmerz auf.
«Überleg es dir gut», sagte Anaxos, während er die Zelle verließ, «überleg es dir gut.» Er stand kaum im Gang, als er mich auch schon freudigst begrüßte.
«Nikomachos», rief er und breitete die Hände aus. «Es ist nicht unerwartet, dem Herrn der Toxotai in seiner eigenen Kaserne zu begegnen, aber eine Freude ist es doch, noch dazu zu diesem Anlass.» Und mit diesen Worten trat er zu mir und umarmte, ja küsste er mich, als wäre ich sein Bruder.
«Mein lieber Nikomachos», fuhr er fort, «ich habe den Vogel schon kennengelernt, den du da gefangen hast. Ich muss dir sagen, alle Achtung, Nikomachos, alle Achtung … Schon als wir dich für diese heikle Aufgabe ausgesucht haben, ahnte ich, dass etwas in dir steckt. Aber den Mörder Perianders in so wenigen Tagen zu finden, mein Freund, das hätte ich nicht für möglich gehalten. Das Geschick der Stadt lag in deinen Händen. Du hast es zum Guten gewendet. Ich bin sicher, Athen wird dich für diesen Dienst reich belohnen.» Er sprach das Wort reich so melodiös, dass es schon nach Silber klang. Noch einmal drückte er mich an sich.
«Ich danke dir, Herr», antwortete ich vorsichtig und verneigte mich leicht. «Aber woher weißt du von Lysippos? Ich habe ihn gestern erst verhaftet.»
Anaxos ließ seinen Arm auf meiner Schulter liegen. Er roch nach altem Mann.
«Lieber junger Freund», erwiderte er bestens gelaunt, «die Wände Athens haben Ohren, hast du das so schnell vergessen?»
Das hatte ich wohl – jedenfalls hatte ich vergessen, dass auch die Wände dieser Kaserne Ohren haben mochten und einen Mund, der weitertrug, was sie auch immer hörten. Wie dumm war ich eigentlich? Hatte ich wirklich angenommen, hier in der Kaserne der Toxotai gäbe es niemanden, der auf Anaxos’ Soldliste stand und nicht gerne die ein oder andere Silbermünze einsteckte? Und stand es ausgerechnet mir zu, darüber zu richten?
Wir gingen zusammen in Richtung Schreibstube. Das Narbengesicht blieb bei der Zelle und bei Lysippos. Vertrauensvoll hielt Anaxos meinen Arm. Es war schwer zu entscheiden, ob ich ihn oder ob er mich führte. Er bewegte sich in den Fluren der Kaserne ebenso sicher wie im Strategion.
«Du musst mir alles erzählen», sagte Anaxos in dem gleichen Ton, mit dem er auch mit Lysippos gesprochen hatte. «Wie bist du auf ihn gekommen, wie konntest du ihn verhaften?»
«Das war nicht so schwer, Herr», antwortete ich und war bemüht, mich nicht allzu sehr von Anaxos einnehmen zu lassen. «Wir sind über die Spur des Ringes auf ihn gekommen. Ich hatte dir ja von dem Schmuck erzählt. Wir haben ihn bei einem Juwelier entdeckt, und der brachte uns auf Lysippos. Aber du willst mich allzu früh mit dem Lorbeer des Siegers kränzen. Dieser Wettkampf ist leider noch lange nicht gewonnen: Ich glaube nicht, dass Lysippos Periander getötet hat. Beraubt gewiss, ermordet aber nicht.»
Anaxos blieb stehen. Er sah mich aus seinen feuchten Augen an, und das Lächeln in seinem Gesicht war nicht mehr dasselbe, das er mir gerade eben noch gezeigt hatte.
«Und wieso bist du dir da so sicher?», fragte er mit seiner ganzen schlangenhaften Freundlichkeit.
«Das hängt mit dem Papyrus zusammen, den wir in Perianders Rachen gefunden haben»,

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