Mord Im Kloster
dass der Tempel wieder aufersteht – wer dann? Aber ich werde das sorgfältig planen und mir Zeit lassen. Und ich will, dass wir zusammenbleiben. Ohne euch kann ich die Kraft nicht aufbringen, eine solche Aufgabe zu bewältigen.«
»Und Guinivevre?«
»Ich überlege noch…«
»Lass sie mit uns kommen!«
»Nein, Sean. Sie ist uns bei dem, was wir tun müssen, im Weg. Außerdem würde ihr Vater das nie gestatten.«
»Und was dann?«
»Ich werde euch Zeit lassen. Bleib mit ihr zusammen – sagen wir drei Monate. Lebt eure Liebe. Prüft euch ernsthaft. Und dann, egal, wie die Prüfung ausgeht, kommst du nach Frankreich.«
»Aber Henri!«
»Ein Mann muss Trennungen durchstehen können, Sean. Auch dann, wenn sie ihm das Herz zerreißen. Das ist eine Übung, die dir noch oft zugute kommen wird.«
Sean begann zu weinen. Aber dann trocknete er die Tränen und sah Henri dankbar an.
»Ich bin einverstanden«, sagte er leise. »Ich werde nie mehr in Ungehorsam dir gegenüber handeln, das verspreche ich.«
Sie gaben sich alle die Hand und sahen sich fest in die Augen. Von der mächtigen Kathedrale her ertönten in diesem Moment die tiefen Glockenschläge der siebten Stunde. Davon aufgeschreckt, schwang sich ein Schwarm Möwen und Reiher empor und floh auf einem hohen Weg über die Stadt.
5
London 1300, nach Ostern
Schlag sieben Uhr stand Henri de Roslin mit den anderen Tempelbrüdern von den Tischen im Refektorium auf und verließ den Speisesaal. Während die Brüder zu ihren Beschäftigungen im Tempelbezirk gingen, brach Henri in die Stadt auf.
Die unzähligen Gassen der Londoner Innenstadt waren nach einem erneuten Regenguss aufgeweicht. Henri fragte sich, ob es jemals eine Zeit geben würde, in der sich das änderte. Er sprang über Pfützen hinweg, und so manches Mal platschte er auch mitten hinein. Je näher er der Themse kam, wo der Vater des ermordeten Abtes wohnte, desto mehr nahm das Gewimmel der Hafenarbeiter zu, die Waren zwischen den Lagerhäusern und dem Kai hin und her trugen. Es roch angenehm nach Harz und Teer, Holz und Wasser. Aber am Flussufer waren die Wege noch schlammiger, sie bestanden nur aus zähem braunem Morast, in dem die Arbeiter mühsam herumstaksten.
Am Kai lagen die Schiffe dicht an dicht, ihre Masten schienen miteinander zu sprechen, sie neigten sich und beugten sich zur anderen Seite, aber es waren die behäbigen Schiffe, die während des Verladens schwankten. Einige Stege, die zu den Ladeluken führten, waren unter den schweren Lasten abgesunken und mussten repariert werden. Henri überquerte die einzige Brücke über den Fluss, die von zwei Häuserreihen gesäumte London Bridge, und betrat den Boden der südlichen Vorstadt. Hier wohnte der Mann, der ihn bestellt hatte.
Noch war es Henri rätselhaft, wie das Verbrechen geschehen konnte. Hätten sie es verhindern können, wenn sie in St. Albans geblieben wären? Neville war dieser Meinung und machte sich Vorwürfe. Henri versuchte herauszufinden, was der Tod von Abt Thomas mit seinem Brief zu tun haben könnte. Gab es einen Zusammenhang, der in der Warnung des Abtes bestand? Dieser Brief war offensichtlich ein Schlüssel. Aber welches Tor öffnete er?
Hier in Southwark hatte das geschäftliche Treiben der Londoner Innenstadt aufgehört, fast ländliche Ruhe lag über den flachen Häusern, nur manchmal bellten Hunde. Abtvater Thomas of Maycock wohnte allein in einem alten Fachwerkgebäude. Es stand zurückversetzt in einer Straße mit kleinen Gärten und bot mit seinen rot angemalten Pfosten, die mit Weidenruten verflochten und mit braunem Lehm bedeckt waren, einen hübschen Anblick. Die Klingel bestand aus der Miniatur eines menschlichen Skeletts, welches zu tanzen begann, wenn man an der Klingelschnur zog. Es schellte durchdringend.
Der alte Abtvater machte nur kurz die Tür auf und winkte seinen Besucher herein. Dann steckte er seinen schlohweißen Kopf heraus, sah sich schnell nach allen Seiten um und schloss die Tür.
»Henri de Roslin, wie? Kommt herein und trinkt einen Würzwein mit mir, mein Sohn.«
»Nein, nein, keinen Wein. Ich habe meine Zuteilung für heute schon im Tempel genossen.«
»Dann schaut mir beim Trinken zu.«
Sie setzten sich gegenüber. Der Vater des Abtes von St. Albans hatte trotz seines Alters scharfe, dunkle Augen, die Henri aufmerksam betrachteten. Seine vorgewölbten Lippen waren feucht, auch wenn er nicht trank, sein Gebiss war kräftig. In die Haut seines Gesichtes war
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