Mord im Nord
wachsender Möglichkeiten von Gesichts- und Personenidentifikation wird es in den Städten bald möglich sein, ein lückenloses Bewegungsprofil der dort Anwesenden zu erstellen. Und weil sich eine derartige Überwachung in ländlichen Gebieten schlicht nicht lohnt und deshalb dort niemand ein Bewegungsprofil erstellen kann, jedenfalls so lange, wie man sein Handy ausgeschaltet lässt, könnte die freie Luft tatsächlich bald auf dem Land wehen.
Das Gespräch führte zurück zur Aktualität von Beethovens Sechster. Trotz – oder vielleicht auch wegen – des inzwischen reichlich genossenen Appenzeller Alpenbitters wurden wir uns rasch darüber einig, dass es in dieser Musik eben nicht um das Landleben als solches gehe, sondern um die Sehnsucht danach. Diese Sehnsucht gibt es schon lange. Bereits die alten Römer haben sich in bukolischen Gedichten das unschuldige, heitere, naturnahe und idyllische Landleben in den hübschesten Farben ausgemalt. Beethovens Sehnsucht danach war Teil des Zeitgeistes Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. So erstaunt es wenig, dass diese Sehnsucht unverdrossen weiterlebte bis heute, ja dass sie sogar stärker geworden ist.
Davon, auch darüber herrschte Einigkeit, lebt die Marke Appenzell sehr gut, ob es nun um Tourismus geht oder um allerhand Regionalprodukte, die mit dem Namen Appenzell verbunden sind. Die Marke Appenzell verkörpert diese Sehnsuchtswelt wie kaum ein anderer Landstrich und enthält alle Elemente, die dazugehören. Diese Welt ist rein und unverfälscht, natürlich und echt. Sie ruht in beinahe ewigen Traditionen. Diese Welt ist wohlgeordnet und stabil. Ihre Bewohner ruhen in sich selbst, sind gelassen und souverän und betrachten die Welt immer mit einem heiteren Augenzwinkern.
Dass diese Sehnsuchtswelt, die sich mit der Marke Appenzell untrennbar verbunden hat, kein exaktes Abbild der Wirklichkeit ist, interessiert dabei wenig. Natürlich gibt es diese Sehnsuchtswelt so nicht, und wenn es sie gäbe, wäre das gar nicht gut. So mancher Gast aus der Stadt nimmt zwar beim ersten Aufenthalt im Appenzellerland in erster Linie die paradiesischen Züge wahr, versichert bald darauf aber glaubhaft, wirklich leben könnte er hier nicht. Die Sehnsucht nach der heilen Welt will gar nicht wirklich gestillt werden.
Sie will vielmehr als Sehnsucht am Leben bleiben. Und das kann sie am ehesten, wenn sie nur für einen Moment und nur zu kleinen Teilen gestillt wird. Und genau diese Leistung bietet die Marke Appenzell, indem im Appenzellerland alle Elemente der ländlichen Sehnsuchtswelt in Form von «Spurenelementen», und manchmal auch ein bisschen mehr, tatsächlich im Angebot sind. Wer hier nach Klischees sucht, wird sie in Teilen immer finden. Das genügt den Sehnsüchtigen denn auch, um das Flämmchen am Leben zu halten. Davon leben sie dann wieder ein Weilchen. So einfach, befanden wir damals, sei das.
Von den nahen Hügeln klangen die Glocken der dort weidenden Kühe und erinnerten uns daran, dass die Sehnsuchtslandschaft Appenzellerland natürlich auch darum so attraktiv ist, weil sie in solchen Momenten immer noch eine Hirtenkultur verkörpert. Womit sich der Kreis zur sechsten Symphonie von Beethoven schloss. Die Pastorale beschreibt ja nicht die Sehnsucht nach irgendeiner ländlichen Landschaft. In ihrem Namen steckt vielmehr das lateinische Wort für Hirten. Und eine Landwirtschaft, die sich gezwungenermassen auf das Halten von Weidetieren beschränken muss wie jene im Appenzellerland, ist nun mal eine andere ländliche Kultur als jene, in der vorwiegend Ackerbau betrieben wird.
Wir hatten uns noch eine Weile darüber unterhalten, dass eine solche Hirtenkultur symbolisch stark an das Paradies mit seinem friedlichen Miteinander von Pflanzen, Tieren und Menschen erinnert, was den Wert der Marke Appenzell noch einmal steigert, und uns dann anderen Themen zugewandt. Jedenfalls leuchtete mir auch die Wahl des letzten Satzes ein, denn der heisst ausdrücklich «Hirtengesang. Frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm.» Also noch einmal eine andere Umschreibung für Seelenfrieden.
Die Beerdigung selbst verlief in Würde. Überraschenderweise waren doch etwa zehn Leute gekommen, die schweigend etwa zehn Minuten den Bach entlangstapften und sich am vorgesehenen Platz aufstellten. Die Musik schepperte zwar etwas, doch der Hirtengesang kam dennoch in seiner ganzen ruhigen und entspannten Schönheit rüber und bescherte jedenfalls mir tatsächlich so etwas wie Seelenfrieden.
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