Mord im Nord
kein besseres Wort für ihre Empfindungen als Seelenfrieden. Das sei doch eher überraschend, sei sie doch bisher wegen meiner Geheimniskrämerei aufgeregt und verärgert und angespannt gewesen, doch jetzt erfülle, nach einer kurzen Übergangszeit, tatsächlich Frieden ihre Seele.
Normalerweise daure das bei ihr viel länger. Ein Glas Wein oder ein Pfeifchen könnten diesen Entspannungsprozess erleichtern und beschleunigen, aber beides, stellte sie richtigerweise fest, hätten wir ja heute noch nicht gehabt. Dennoch fühle sich ihr jetziger Bewusstseinszustand an, als ob sie etwas genommen hätte. Sie habe ja einige Erfahrungen mit durch Moleküle veränderten Bewusstseinszuständen und könne das deswegen beurteilen. Allerdings gleiche ihr jetziger Zustand keiner ihrer Erfahrungen. Sehr sanft und subtil fühle es sich an, klar und einfach, gelassen und souverän, fried- und freudvoll. Ja, Seelenfrieden sei wirklich ein gutes Wort dafür.
Sie schwieg eine Weile, blickte mich dann fragend an und begehrte zu wissen, ob ich ihr nicht doch vielleicht heimlich etwas verabreicht hätte. Ich schwieg vielsagend. Adelinas Blick wanderte umher, um schliesslich an den Rindenresten unserer Käsemahlzeit hängen zu bleiben. Ein Ausdruck ungläubigen Staunens erschien auf ihrem Gesicht. Sie brauchte offenbar eine Weile, um die Erkenntnis zu verdauen. Ob es wirklich der Käse gewesen sei, wollte sie wissen. Meine Antwort bestand aus einem einzigen Wort: ja.
Ein Stück Appenzeller Käse, das nicht nur hervorragend schmeckt, sondern auch Seelenfrieden schenkt – Adelina konnte es noch immer nicht fassen. Ich versprach, ihr gleich mehr darüber zu berichten. Zunächst kramte ich eine blaue Klarsichthülle aus dem Stapel, in dem ich Material über Käse sammle, um ihr zu zeigen, dass die Idee auch grundsätzlich nicht so abwegig war, wie sie zunächst klang.
Der erste Zeitungsausschnitt berichtete unter dem Titel «Käse ist weltweit beliebtestes Diebesgut bei Lebensmitteln» darüber, dass 2011 der Käse das Frischfleisch vom Spitzenplatz auf der Hitliste der weltweit meistgeklauten Lebensmittel verdrängt habe, was doch eindeutig darauf hindeutet, dass Käse ein ganz besonderes Lebens-Mittel ist.
Der zweite Ausschnitt war eine Buchbesprechung, die wie folgt eingeleitet wurde: «Der amerikanische Journalist James Nestor liefert schräge Ideen für hundertfünfundsiebzig Räusche ohne Drogen.» Gelb markiert hatte ich mir in diesem Artikel den folgenden Satz: «Und zum Glück liefert Nestor einige richtig schräge Ideen: Sich freiwillig auf Schlafentzug setzen»– und jetzt kam es –«vor dem Zubettgehen stets Käse essen!» Mehr Details standen da leider nicht, und ich hatte mir das Buch auch nicht besorgt, doch der Zusammenhang zwischen «Rausch ohne Drogen» und «Käse» war offenkundig hergestellt.
Auf einem Zettel fand sich ein Zitat aus einer Radiowerbung eines deutschen Senders, den der Fahrer eines Postautos, in dem ich irgendwann sass, eingestellt hatte: «Natürlicher Genuss mit Wirkung!» Dieser Slogan bezog sich zwar auf ein mir unbekanntes Mineralwasser, doch er war ein deutliches Indiz dafür, dass der Gedanke, natürliche Lebensmittel wie Wasser oder eben auch Käse könnten mehr bewirken, als Hunger und Durst zu stillen, durchaus in der Luft lag.
Im Mäppchen war noch ein Zettel mit der Web-Adresse von Gruyère-Käse, also einer direkten Konkurrenz von Appenzeller Käse. Ich rief die entsprechende Seite auf, auf der man den aktuellen Fernsehspot anschauen konnte. In diesem kommt ein völlig überdrehter Mountainbike-Fahrer nach einer aufregenden Abfahrt in der Alphütte an und berichtet dort einem völlig ruhigen jungen Mann unter grossem Fuchteln und Zappeln von seinen Erlebnissen. Nachdem er eine Weile zugehört hat, greift der junge Mann zu einem Stück Käse und bietet es dem Zappelphilipp mit den Worten «Probier das. Dann wird’s besser!» an. Der ob seiner Überdrehtheit mittlerweile zusammengebrochene Biker isst einige Bissen Gruyère, sagt dann: «Geht besser!», und beruhigt sich in Sekundenbruchteilen total. Im Abspann verkündet eine Stimme aus dem Off: «Die wahre Natur beruhigt.» Viel direkter konnte die Aufforderung, ein Stück Käse als Psychopharmakon zu nutzen, wohl kaum formuliert werden.
Adelina musste zugeben, die Idee, ein Stück Käse könne Seelenfrieden bringen, sei wohl doch weniger abwegig, als sie zunächst gedacht hätte. Umso mehr brannte sie darauf, jetzt endlich die
Weitere Kostenlose Bücher