Mord im Orientexpress
Sie, das ist für uns eine ernste Angelegenheit – ich spreche für die Compagnie internationale des wagons-lits. Bis die jugoslawische Polizei kommt – wie einfach wäre es, wenn wir ihr schon die Lösung präsentieren könnten! Wenn nicht, gibt es nur allerlei Verzögerungen, Unannehmlichkeiten, tausend Ärgernisse. Wer weiß, womöglich geraten sogar völlig unschuldige Leute in Schwierigkeiten. Nein, mon ami, lösen Sie den Fall. Dann sagen wir: Es ist ein Mord geschehen – und hier ist der Mörder!»
«Und wenn ich den Fall nicht lösen kann?»
«Mon cher, mon cher», schmeichelte Monsieur Bouc. «Ich kenne Ihren Ruf. Ich kenne Ihre Methoden. Das ist der ideale Fall für Sie. Das Vorleben aller dieser Leute zu durchleuchten, ihren Leumund zu prüfen – das kostet alles Zeit und bereitet endlose Umstände. Aber habe ich Sie nicht oft sagen hören, dass man sich nur zurücklehnen und nachdenken muss, um einen Fall zu lösen? Tun Sie das. Verhören Sie die Fahrgäste, nehmen Sie die Leiche in Augenschein, suchen Sie Spuren und Hinweise, und dann – kurz gesagt, ich habe Vertrauen zu Ihnen. Ich weiß genau, dass Sie nicht nur prahlen. Lehnen Sie sich zurück und denken Sie nach, machen Sie (wie ich Sie oft habe sagen hören) Gebrauch von den kleinen grauen Zellen Ihres Gehirns – und schon werden Sie es wi s sen.»
Er beugte sich zu seinem Freund vor und sah ihn liebevoll an.
«Ihr Vertrauen rührt mich, mon ami», antwortete Poirot bewegt. «Es kann, wie Sie sagen, kein schwieriger Fall sein. Ich habe selbst schon gestern Abend – aber davon wollen wir jetzt nicht reden. Es ist wahr, dieses Problem fesselt mich. Es ist noch keine halbe Stunde her, dass ich gedacht habe, wie viele Stunden Langeweile vor mir liegen, solange wir hier festsitzen. Und nun – stellt sich mir bereits ein Problem.»
«Sie sagen also ja?», rief Monsieur Bouc begeistert.
«C ’ est entendu. Legen Sie die Sache in meine Hände.»
«Gut – wir stehen Ihnen alle zu Diensten.»
«Dann hätte ich für den Anfang gern einen Grundrissplan des Wagens Istanbul-Calais, zusammen mit einer Aufstellung, wer welches Abteil bewohnt. Außerdem möchte ich die Pässe und Fahrkarten sehen.»
«Die wird Michel Ihnen besorgen.»
Der Schlafwagenschaffner verließ das Abteil.
«Was sind sonst noch für Leute im Zug?», fragte Poirot.
«In diesem Wagen sind Dr. Constantine und ich die einzigen Fahrgäste. Im Schlafwagen aus Bukarest sitzt nur ein alter Mann mit einem lahmen Bein. Der Schaffner kennt ihn. Dahinter kommen die normalen Reisewagen, die uns aber nicht interessieren, weil sie gestern Abend, nachdem das Essen serviert worden war, abgeschlossen wurden. Vor dem Wagen Istanbul-Calais befindet sich nur noch der Speisewagen.»
«Dann», sagte Poirot bedächtig, «sieht es so aus, als ob wir unseren Mörder im Wagen Istanbul-Calais zu suchen hätten.» Er wandte sich an den Arzt. «Das wollten Sie doch vorhin andeuten, nicht wahr?»
Der Grieche nickte.
«Wir sind eine halbe Stunde nach Mitternacht in diese Schneeverwehung geraten. Danach kann niemand mehr den Zug verlassen haben.»
«Der Mörder», sagte Monsieur Bouc mit feierlichem Ernst, «ist unter uns – er sitzt jetzt in diesem Zug.»
Sechstes Kapitel
Eine Frau?
A ls Erstes», sagte Poirot, «möchte ich gern ein Wörtchen mit dem jungen Mr. MacQueen reden. Könnte sein, dass er uns wertvolle Informationen zu geben hat.»
«Gewiss», sagte Monsieur Bouc.
Er wandte sich an den Zugführer.
«Holen Sie Monsieur MacQueen.»
Der Schaffner kam mit einem Packen Fahrkarten und Pässe zurück. Monsieur Bouc nahm sie ihm ab.
«Danke, Michel. Ich glaube, Sie gehen jetzt am besten wieder auf Ihren Posten. Wir werden Ihre Aussage später formell aufnehmen.»
«Sehr wohl, Monsieur.»
Nun verließ auch Michel das Abteil.
«Wenn wir den jungen MacQueen angehört haben», sagte Poirot, «möchte Monsieur le Docteur mich vielleicht ins Abteil des Toten begleiten?»
«Gewiss.»
«Und wenn wir dort fertig sind –»
Aber in diesem Moment kam der Zugführer mit Hector MacQueen zurück.
Monsieur Bouc stand auf. «Es ist ein wenig beengt hier», sagte er liebenswürdig. «Nehmen Sie meinen Platz, Mr. MacQueen. Monsieur Poirot wird Ihnen gegenüber sitzen – so.»
Er wandte sich an den Zugführer.
«Schicken Sie alle Leute aus dem Speisewagen», sagte er, «und halten Sie ihn für Monsieur Poirot frei. Sie werden Ihre Befragungen doch lieber dort vornehmen, mon cher?»
«Ja,
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