Mord im Orientexpress
nächsten Wagens wurde herbeizitiert und bestätigte auf Anhieb Pierre Michels Aussage. Der Schaffner des Bukarester Wagens sei auch dabei gewesen, fügte er hinzu. Sie hätten zu dritt über die Situation gesprochen, die durch den Schnee entstanden war. Nach etwa zehn Minuten habe Michel eine Klingel zu hören geglaubt. Als er die Durchgangstüren zwischen den beiden Wagen geöffnet habe, hätten sie es alle ganz deutlich gehört. Es habe wiederholt geklingelt. Michel sei unverzüglich hingerannt.
«Sie sehen, Monsieur, dass ich unschuldig bin», rief Michel angstvoll.
«Und diesen Knopf von der Uniform eines Schlafwagenschaffners, wie erklären Sie mir den?»
«Ich habe dafür keine Erklärung, Monsieur. Es ist mir ein Rätsel. An meiner Uniform fehlt kein Knopf.»
Die beiden anderen Schlafwagenschaffner beteuerten ebenfalls, sie hätten keinen Knopf verloren. Auch seien sie zu keiner Zeit in Mrs. Hubbards Abteil gewesen.
«Beruhigen Sie sich, Michel», sagte Monsieur Bouc, «und denken Sie jetzt einmal an den Moment zurück, als Sie Mrs. Hubbard klingeln hörten und zu ihr eilten. Sind Sie da auf dem Gang jemandem begegnet?»
«Nein, Monsieur.»
«Haben Sie auf dem Gang jemanden in die andere Richtung gehen sehen, also von Ihnen weg?»
«Auch das nicht, Monsieur.»
«Merkwürdig», meinte Monsieur Bouc.
«Gar nicht so merkwürdig», sagte Poirot. «Es ist eine Frage der Zeiten. Mrs. Hubbard wacht auf und merkt, dass jemand in ihrem Abteil ist. Mindestens eine Minute lang liegt sie mit geschlossenen Augen da und ist wie gelähmt. In dieser Zeit schleicht der Mann sich wahrscheinlich auf den Gang hinaus. Dann erst beginnt sie zu klingeln. Aber der Schaffner kommt nicht gleich. Er hört erst das dritte oder vierte Klingelzeichen. Ich für meinen Teil würde sagen, dass da reichlich Zeit war –»
«Zeit wofür? Wofür, mon cher? Vergessen Sie nicht, dass der ganze Zug in einer hohen Schneeverwehung steckte.»
«Unserem geheimnisvollen Mörder standen zwei Wege offen», antwortete Poirot bedächtig. «Er konnte auf eine der beiden Toiletten verschwinden oder sich in eines der Abteile zurückziehen.»
«Es waren aber alle Abteile belegt.»
«Richtig.»
«Sie meinen, er könnte sich in sein eigenes Abteil zurückgezogen haben?»
Poirot nickte.
«Es passt, es passt», murmelte Monsieur Bouc. «Während der zehn Minuten, die der Schaffner nicht an seinem Platz ist, kommt der Mörder aus seinem Abteil, geht zu Mr. Ratchett, tötet ihn, verschließt die Abteiltür von innen und legt die Kette vor; dann geht er durch Mrs. Hubbards Abteil hinaus und ist, bevor der Schaffner kommt, wieder sicher in seinem eigenen Abteil.»
«Ganz so einfach ist es nicht», murmelte Poirot. «Warum, das kann Ihnen unser guter Doktor erklären.»
Monsieur Bouc bedeutete den drei Schaffnern, dass sie gehen dürften.
«Wir müssen noch acht Fahrgäste vernehmen», sagte Poirot. «Fünf aus der ersten Klasse – Fürstin Dragomiroff, Graf und Gräfin Andrenyi, Colonel Arbuthnot und Mr. Hardman. Und drei aus der zweiten Klasse – Miss Debenham, Antonio Foscarelli und die Zofe, Fräulein Schmidt.»
«Wen wollen Sie zuerst haben – den Italiener?»
«Oh, wie Sie auf Ihrem Italiener herumreiten! Nein, wir fangen ganz oben an. Madame la Princesse wird vielleicht die Güte haben, uns ein paar Minuten zu opfern. Richten Sie ihr das bitte aus, Michel.»
«Oui, Monsieur», sagte der Schaffner, der gerade aus dem Speisewagen ging.
«Sagen Sie ihr, wir können ihr unsere Aufwartung auch gern in ihrem Abteil machen, falls sie nicht die Mühe auf sich nehmen möchte, hierher zu kommen», rief Monsieur Bouc.
Aber die Fürstin Dragomiroff wies dieses Anerbieten zurück. Sie kam in den Speisewagen, neigte kaum merklich den Kopf und setzte sich Poirot gegenüber.
Ihr kleines Krötengesicht war noch gelber als am Tag zuvor. Man konnte wohl sagen, dass sie hässlich war, und doch hatte sie, ebenfalls der Kröte gleich, Augen wie Juwelen, dunkel und gebieterisch. Sie verrieten eine innere Energie und Geisteskraft, die man sofort spürte.
Ihre tiefe, sehr klare Stimme hatte etwas Raspelndes.
Sie schnitt Monsieur Bouc, der schon zu einer blumigen Entschuldigung ansetzte, kurzerhand das Wort ab.
«Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Messieurs. Ich weiß, dass ein Mord geschehen ist. Selbstverständlich müssen Sie alle Fahrgäste vernehmen. Ich will Ihnen gerne helfen, soweit es in meiner Macht steht.»
«Sie sind sehr
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