Mord im Orientexpress
Nachbarabteil hing ein großer karierter Waschzeugbeutel aus Gummi. Darunter lag, wie Mrs. Hubbard ihn fallen gelassen hatte, ein Dolch – ein billiges, pseudoorientalisches Ding mit bossiertem Heft und gerader, spitz zulaufender Klinge, auf der lauter bräunliche Flecken waren, wie Rost.
Poirot hob den Dolch vorsichtig auf.
«Ja», brummelte er leise. «Irrtum ausgeschlossen. Das ist die gesuchte Waffe – stimmt’s, Doktor?»
Der Arzt nahm den Dolch von allen Seiten in Augenschein.
«Sie brauchen nicht so vorsichtig damit umzugehen», meinte Poirot. «Da sind höchstens Mrs. Hubbards Fingerabdrücke drauf.»
Dr. Constantine brauchte für die Begutachtung nicht lange.
«Ja, das ist die Tatwaffe», sagte er. «Die Wunden können alle von ihr stammen.»
«Ich flehe Sie an, mein Freund, sagen Sie das nicht.»
Der Doktor sah ihn verwundert an.
«Bitte, wir sind schon jetzt mit Zufällen überreichlich eingedeckt. Zwei Menschen beschließen in derselben Nacht, Mr. Ratchett zu ermorden. Es wäre wirklich zu viel des Guten, wenn sie sich beide dafür auch noch genau die gleiche Waffe zugelegt hätten.»
«In dieser Hinsicht», meinte der Doktor, «ist der Zufall vielleicht gar nicht so groß, wie man meinen sollte. Diese pseudoorientalischen Dolche werden zu tausenden auf die Basars von Konstantinopel gebracht.»
«Das ist ein Trost, wenn auch nur ein schwacher», sagte Poirot. Er betrachtete nachdenklich die Tür, vor der er stand. Dann nahm er den Waschzeugbeutel ab und probierte die Klinke. Die Tür bewegte sich nicht. Etwa dreißig Zentimeter über der Klinke befand sich das Verriegelungsschloss. Poirot drehte den Knauf und probierte die Klinke noch einmal, aber die Tür bewegte sich nach wie vor nicht.
«Wir haben sie von der anderen Seite verriegelt, wenn Sie sich erinnern», sagte der Arzt.
«Richtig», meinte Poirot, mit den Gedanken woanders. Er hatte die Stirn in tiefe Falten gelegt, als könnte er nun überhaupt nichts mehr verstehen.
«Es passt doch, oder?», fragte Monsieur Bouc. «Der Mann geht durch dieses Abteil. Als er die Verbindungstür hinter sich schließt, fühlt er den Waschzeugbeutel. Da hat er eine Idee, und schnell steckt er das blutbefleckte Messer hinein. Dann geht er, ohne zu ahnen, dass er Mrs. Hubbard aufgeweckt hat, durch die andere Tür auf den Gang hinaus.»
«Sie sagen es», murmelte Poirot. «So muss es zugegangen sein.»
Aber der Ausdruck tiefster Verwirrung stand noch immer in seinem Gesicht.
«Was haben Sie denn?», fragte Monsieur Bouc. «Sie scheinen mit irgendetwas nicht zufrieden zu sein.»
Poirot warf ihm einen raschen Blick zu.
«Fällt Ihnen nicht auch etwas auf? Nein, offenbar nicht. Nun gut, es ist nur eine Kleinigkeit.»
Der Schaffner steckte den Kopf ins Abteil.
«Die Amerikanerin kommt zurück.»
Dr. Constantine blickte schuldbewusst drein. Er fand, dass er Mrs. Hubbard ziemlich schäbig behandelt hatte. Aber sie kam ihm nicht mit Vorwürfen. Ihre Energien waren auf anderes gerichtet.
«Das eine sage ich Ihnen gleich», ließ sie sich atemlos vernehmen, kaum dass sie an der Tür war. «Ich bleibe nicht eine Minute länger in diesem Abteil! Nein, hier könnte ich heute Nacht nicht schlafen, und wenn Sie mir eine Million Dollar dafür bieten.»
«Aber Madame –»
«Ich weiß, was Sie sagen wollen, aber dergleichen kommt überhaupt nicht in Frage. Lieber setze ich mich die ganze Nacht auf den Gang.»
Sie begann zu weinen.
«Oh, wenn das meine Tochter wüsste – wenn sie mich jetzt sehen könnte – warum –?»
Poirot griff energisch ein.
«Sie haben uns falsch verstanden, Madame. Ihre Forderung ist vollkommen berechtigt. Ihr Gepäck wird sofort in ein anderes Abteil gebracht.»
Mrs. Hubbard ließ ihr Taschentuch sinken.
«Ja? Oh, dann ist mir gleich schon wieder wohler. Aber hier ist doch schon alles voll – es sei denn, einer der Herren –»
Monsieur Bouc meldete sich zu Wort.
«Ihr Gepäck, Madame, wird sogar in einen anderen Wagen gebracht. Sie bekommen ein Abteil im nächsten Wagen, der in Belgrad angehängt wurde.»
«Oh, das ist ja wunderbar. Ich bin ja nicht übertrieben ängstlich, aber in einem Abteil zu schlafen, wo nebenan ein Toter liegt – » Sie schauderte. «Ich würde glatt verrückt.»
«Michel», befahl Monsieur Bouc, «schaffen Sie dieses Gepäck in ein leeres Abteil im Wagen Athen-Paris.»
«Ja, Monsieur. Das gleiche Abteil wie hier – Nummer drei?»
«Nein», sagte Poirot rasch, bevor sein Freund antworten
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