Mord im Pfarrhaus
könnte. Ich glaube, die liebe Lettice dachte das auch. Sie ist im Grunde ein sehr scharfsinniges Mädchen. Nicht immer sehr gewissenhaft, fürchte ich. Anne Protheroe sagt also, sie habe ihren Mann getötet. So so. Ich glaube nicht, dass das stimmt. Nein, ich bin fast sicher, dass es nicht stimmt. Nicht bei einer Frau wie Anne Protheroe. Obwohl man bei niemandem ganz sicher sein kann, nicht wahr? Wann will sie ihn denn erschossen haben?»
«Zwanzig Minuten nach sechs. Gleich nachdem sie mit Ihnen geredet hat.»
Mrs Marple schüttelte langsam und mitleidig den Kopf. Das Mitleid galt, nehme ich an, zwei erwachsenen Männern, die so töricht waren, eine solche Geschichte zu glauben. Jedenfalls kam es uns so vor.
«Womit hat sie ihn erschossen?»
«Mit einer Pistole?»
«Woher hatte sie die?»
«Sie hat sie mitgebracht.»
«Nun, das stimmt nicht», sagte Miss Marple unerwartet entschieden. «Das kann ich beschwören. Sie hatte nichts dergleichen bei sich.»
«Vielleicht haben Sie sie nicht gesehen.»
«Natürlich hätte ich sie gesehen.»
«Wenn sie in ihrer Handtasche gewesen wäre?»
«Sie hatte keine Handtasche dabei.»
«Nun, die Waffe könnte versteckt gewesen sein – äh – an ihrem Körper.»
Miss Marples Blick war halb bedauernd, halb verächtlich. «Mein lieber Colonel Melchett, Sie wissen, wie die jungen Frauen heutzutage sind. Sie schämen sich nicht zu zeigen, wie der Schöpfer sie erschaffen hat. Sie trug noch nicht einmal ein Taschentuch oben in ihrem Strumpf.»
Melchett war hartnäckig. «Sie müssen zugeben, dass alles zusammenpasst: die Zeit, die umgeworfene Uhr, die auf 6.22 stehen blieb…»
Miss Marple wandte sich an mich. «Soll das heißen, Sie haben ihm das von der Uhr noch nicht erzählt?»
«Was ist mit der Uhr, Clement?»
Ich sagte es ihm. Er war ziemlich verärgert. «Warum um alles in der Welt haben Sie das gestern Abend nicht Slack gesagt?»
«Weil er es nicht zuließ», sagte ich.
«Unsinn, Sie hätten darauf bestehen müssen.»
«Vielleicht. Kommissar Slack benimmt sich Ihnen gegenüber ganz anders als mir gegenüber. Ich hatte nicht die geringste Chance, zu Wort zu kommen.»
«Das Ganze ist eine sehr ungewöhnliche Angelegenheit», sagte Melchett. «Wenn jetzt noch ein Dritter kommt und behauptet, diesen Mord begangen zu haben, dann bin ich reif fürs Irrenhaus.»
«Wenn ich etwas vorschlagen dürfte…», murmelte Miss Marple.
«Nun?»
«Wenn Sie Mr Redding erzählen würden, was Mrs Protheroe getan hat, und dann erklären würden, dass Sie ihr nicht glauben, und danach zu Mrs Protheroe gingen und ihr sagen würden, dass Mr Redding außer Verdacht ist – nun, dann könnten beide Ihnen die Wahrheit sagen. Und die Wahrheit ist hilfreich, obwohl ich behaupten möchte, sie wissen selbst nicht viel, die armen Dinger.»
«Das ist alles schön und gut, aber sie sind die beiden Einzigen, die ein Motiv hatten, Protheroe umzubringen.»
«Oh, das würde ich nicht behaupten, Colonel Melchett», sagte Miss Marple.
«Wieso, fällt Ihnen noch jemand ein?»
«Oh ja, ohne weiteres.» Sie zählte an ihren Fingern ab: «Einer, zwei, drei, vier, fünf, sechs – ja, und möglicherweise ein Siebter. Sieben Leute fallen mir ein, die sehr froh sein dürften, dass Colonel Protheroe aus dem Weg geräumt ist.»
Der Colonel schaute sie zweifelnd an. «Sieben Leute? In St. Mary Mead?»
Miss Marple nickte strahlend.
«Wohlgemerkt, ich nenne keine Namen. Das wäre nicht richtig. Aber ich fürchte, es gibt viel Schlechtigkeit in der Welt. Ein netter, ehrbarer, aufrechter Soldat wie Sie weiß über diese Dinge nicht Bescheid, Colonel Melchett.»
Ich fürchtete, der Polizeichef würde einen Schlaganfall bekommen.
Zehntes Kapitel
A ls wir das Haus verlassen hatten, waren seine Bemerkungen über Miss Marple alles andere als schmeichelhaft.
«Ich glaube wirklich, diese verschrumpelte alte Jungfer denkt, sie weiß alles, was es zu wissen gibt. Und dabei ist sie ihr Leben lang kaum aus diesem Dorf herausgekommen. Lächerlich. Was kann sie schon vom Leben wissen?»
Ich sagte milde, auch wenn Miss Marple zweifellos fast nichts über das LEBEN in Großbuchstaben wisse, so wisse sie doch praktisch alles, was in St. Mary Mead vorging.
Das musste Melchett widerwillig zugeben. Sie war eine wertvolle Zeugin – besonders wertvoll von Mrs Protheroes Standpunkt.
«Wenn Miss Marple sagt, dass sie keine Pistole bei sich hatte, können Sie Gift darauf nehmen, dass es stimmt», sagte
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