Mord im Tal der Koenige - Historischer Roman
auf die Pforte blickte, mit offenen Augen schlief oder tief in Gedanken versunken war.
»Willkommen im Hause Amuns, Rechmire!«, begrüßte ihn Kaaper, ohne sich umzuwenden.
»Du hast mich kommen sehen?«, entgegnete Rechmire und kam sich im selben Augenblick unhöflich und töricht vor.
Der Priester lächelte dünn. »Jeder Mensch hat seine eigene Art zu schreiten. Ich habe in den letzten Jahren gelernt, die Menschen am Geräusch ihres Ganges zu erkennen. Außerdem werden die meisten Arbeiter heute Morgen zum Ort der Wahrheit gehen, um das Haus der Ewigkeit des Pharaos noch tiefer und prachtvoller in den Fels zu treiben. Da wenden sie sich gewöhnlich nicht noch vorher zum Tempel, um Amun zu huldigen. Leider.«
»Du kennst das Leben hier schon gut. Was führt einen Priester vom Großen Tempel von Karnak an diesen abgeschiedenen Ort?«, fragte Rechmire.
»Ich sehe, dass du mit deinen Nachforschungen beginnst«, erwiderte Kaaper. In seiner Stimme schwangen Ironie und Anerkennung mit.
Rechmire wurde rot. »Bitte versteh mich nicht falsch«, stotterte er. »Ich bin eigentlich zum Hause Amuns gekommen, damit mir der Gott beisteht und ich meinen Auftrag zur Zufriedenheit des Tschati erfüllen kann.«
»Auch ich bin hier, um Amuns Hilfe zu erflehen. Denn ich hatte einen Traum, in dem ich mich selbst sah, wie ich zum Ort der Wahrheit ging und Amun opferte. Also bin ich hier.« Der Priester löste sich von der Säule und trat mit sicherem Schritt in die Mitte des Vorhofs. Rechmire sah nun, dass Kaapers Körper bis dahin eine Stele aus Kalkstein verdeckt hatte, die an der Wand hinter der Säule lehnte. Er kam näher, um die Platte trotz des Dämmerlichts im Säulengang besser betrachten zu können.
Sie war hüfthoch und so dick wie zwei Daumen. Drei Seiten waren gerade gesägt, nur der obere Rand hatte eine halbrunde Form. Die Rückseite war grob zurechtgehauen, die Vorderseite dagegen fein poliert. Es war eine Votivstele, wie man sie bei jedem Steinschneider Thebens kaufen konnte, um sich anschließend seinen persönlichen Wunsch einmeißeln zu lassen. Rechmire erkannte links Amun, der mit hoher, kegelförmiger Krone, Zepter und Wedel auf einem prachtvollen Thron saß, unter dem ein Mann mit gebeugtem Knie und demütig vorgestreckten Händen dargestellt war – Kaaper. Die Reliefs der beiden Figuren waren mit routinierten Schlägen eingemeißelt worden. Doch die Hieroglyphen, die in fünf Spalten fast die Hälfte der Stele bedeckten, waren ungleichmäßig tief eingeschlagen, schief, unterschiedlich groß und stellenweise fehlerhaft. Rechmire hatte große Mühe, auch nur einige von ihnen zu entziffern. Laut las er:
»O Amun, Herr des Himmels und der Welt,
Der Du das Licht bringst auf die Erde.
Dies erfleht Kaaper,
Dein treuer Diener:
Gott der Götter, Herr der Herren,
Der Du mir das Licht der Augen nimmst.
Schenke mir die Gnade,
alle Herrlichkeiten Deiner Welt
wieder klar zu sehen.«
Kaaper lächelte dünn, als Rechmire geendet hatte. »Ich habe den Text selbst in den Stein gegraben – nicht sehr leserlich, fürchte ich«, erklärte er. »Aber ich hoffe, dass Amun meine Bemühungen zu würdigen weiß.«
Rechmire verkniff sich die Bemerkung, dass der Gott durch falsch geschriebene Hieroglyphen möglicherweise eher erzürnt als erfreut wäre. Stattdessen fragte er: »Warum hast du die Stele hier aufstellen lassen und nicht in Karnak, wo der Gott wohnt?«
»Mein Traum«, erwiderte der Priester. »Ich erzählte dir vorhin, dass mir ein Traum befahl, hierhin zu gehen. Hier soll ich Amun ehren.« Er machte eine entschuldigende Geste.
»Ich gebe zu, dass dies ungewöhnlich ist. Die meisten Menschen würden viel geben, um eine Stele in Karnak aufstellen zu dürfen. Und ausgerechnet ich, der ich jeden Tag in Karnak Dienst tue, gehe zu einem kleinen Heiligtum, das selbst dem ärmsten Bauern offen steht.
Aber mein Blick ist schon so lange trüb, dass ich mich an jede Hoffnung klammere. Zweimal schon haben die Ärzte meine Augen gestochen, zweimal konnte ich für einige Monate wieder besser sehen, doch dann legte Amun wieder einen dichten Schleier zwischen mich und die Welt. Ich kann nicht mehr in seinem Haus als Vorlesepriester amtieren, denn die heiligen Texte auf den Papyrusrollen sind für mich kaum mehr als schwarze Schatten auf einer gelblichen Matte. Ich habe meinen obersten Herrn so erzürnt, dass er mich immer wieder in Dunkelheit stürzt – wenn ich auch nicht weiß, womit ich seinen Zorn auf mich gelenkt habe.
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