Mord im Tal der Koenige - Historischer Roman
eigenes Schicksal war von dem Tamutnefrets weniger verschieden, als sie ahnte. Seine Adoption war eigentlich kaum etwas anderes als ein versteckter Kauf. Nur der Zufall, von einem kinderlosen Paar statt von einem profitgierigen Händler gekauft worden zu sein, hatte letztlich aus ihm einen Schreiber und nicht einen Sklaven gemacht.
Er beendete seine Mahlzeit, ohne ein weiteres Wort mit Tamutnefret zu wechseln. Dann brachen sie zum Dorf auf.
Erst nachdem sie schon lange in seinem Haus angekommen waren, beendete Rechmire das Schweigen. Er hatte zugesehen, wie Tamutnefret Brot buk und ihm auf der Dachterrasse ein Mahl aus Lauch, Zwiebeln, dampfendem Brot und Bier auftrug. Dann hatte sie die Öllampen im Haus entzündet und anschließend seine Schlafstatt auf dem Divan gerichtet, während sie selbst eine Matte auf dem Boden der kleinen Kammer hinter dem Hauptraum ausrollte.
Bevor sie die Lichter losch, richtete sich Rechmire noch einmal halb von seinem Divan auf. »Gibt es im ganzen Dorf eigentlich einen einzigen Menschen, der Kenherchepeschefs Tod aufrichtig betrauert?«, fragte er leise.
»Nein«, antwortete Tamutnefret, ohne zu zögern.
Rechmire nickte. »Du hast wahrscheinlich Recht«, murmelte er. »Nicht einmal seine Frau scheint unglücklich zu sein.«
»Nicht mehr«, antwortete die Sklavin kühl. »Solange sie an der Seite Kenherchepeschefs sein musste, war sie unglücklich. Jede Frau wäre mit diesem Mann unglücklich gewesen.«
»Warum hat sie ihn dann geheiratet?«, fragte Rechmire erstaunt. »Wir sind keine Nubier oder Libyer, die Ehefrauen verschachern wie Sklavinnen und sie zwingen, Männer zu heiraten, die sie hassen. Im Lande Kemet muss die Frau ja sagen, sonst wird die Ehe nicht geschlossen. Und wenn sie später wieder gehen will, kann sie sich jederzeit scheiden lassen. Da sie dabei das Vermögen, das sie vor der Hochzeit besaß, behält und zusätzlich ein Drittel des gemeinsamen Besitzes mitnehmen kann, sind geschiedene Frauen gewöhnlich reicher, als sie es vor einer Ehe gewesen waren. Hunero hätte Kenherchepeschef niemals heiraten müssen. Oder wenn sie diesen Fehler erst zu spät erkannt hatte, dann hätte sie einfach gehen können.«
Tamutnefret lachte kurz und bitter auf. »Man kann dich zwingen, ja zu sagen«, entgegnete sie. »Und man kann dich zwingen, an einem Platz zu bleiben, den du hasst.«
Rechmire blickte sie erstaunt an, doch sie sagte nichts mehr. Die Sklavin verschloss die Haustür mit einem schweren Riegel und blies die Dochte der Öllampen aus. »Gute Nacht, Herr«, sagte sie, bevor sie in der Dunkelheit in ihrer Kammer verschwand.
8. BUCHROLLE
D AS VERSCHWUNDENE T RAUMBUCH DES C HNUMHOTEP
Jahr 6 des Merenptah, Achet, 9. Tag des Paophi, Set-Maat
Am nächsten Morgen ließ Rechmire Tamutnefret allein im Haus arbeiten, denn sie wollte einen großen Strauß Flohkraut abbrennen, um Mücken und Fliegen zu vertreiben. Er ging zum Haus des Kenherchepeschef, doch vor der Tür blieb er abrupt stehen. Jemand sang.
Rechmire lauschte, bis er die Melodie wieder erkannte. Es war ein sentimentales Lied mit eingängiger Melodie, das vor einigen Jahren in Theben aufgekommen war und seitdem von vielen jungen Mädchen am Hafen und in den ärmeren Vierteln gesungen wurde. Niemand wusste, wer es gedichtet hatte, doch es hatte schon mehr als einen Mann verführt.
»O mein Gott, o mein Lotos.
Der Nordwind bläst.
Angenehm ist es, zum Fluss zu gehen.
Mein Herz möchte hineinsteigen,
um mich vor dir zu baden.
Ich lasse dich meine Schönheit schauen
in einem Gewand von bestem königlichen Leinen,
das mit Balsam benetzt ist.
Mein Haar ist geflochten mit Schilf.
Ich steige ins Wasser, um mit dir vereint zu sein,
und komme wieder heraus zu dir
mit einem roten Fisch.
Schön ist er auf meinen Fingern,
ich lege ihn vor dich hin,
während ich deine Schönheit betrachte.
O mein Held, mein Geliebter,
komm doch und schaue mich an!«
Die Sängerin wurde von einer leisen Harfe begleitet. Niemals zuvor hatte Rechmire das Lied mit derartiger Kunstfertigkeit vortragen gehört. Es war eine harmlose Melodie für verliebte junge Mädchen und Hafendirnen, die in Seeleuten Sehnsucht wecken wollten, kein erhabener Hymnus an die Götter; und die Stimmen der Gottessängerinnen in den Tempeln des Amun waren kräftiger, klarer, besser moduliert als die, welche dieses Lied sang. Doch es lag so viel unbeschwerte Heiterkeit in diesem Gesang, dass es ihm das Herz weit machte.
Er wartete, bis die Musik verklungen war,
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