Mord in Babelsberg
zu sehen. Sie saß auf einem einfachen Holzstuhl am Fenster, die Hände im Schoß, und schaute geradeaus. Nicht aus dem Fenster oder zur Tür, sondern an die schmucklose Wand. Sietrug einen weißen Kittel, der im Rücken geschlossen wurde, und Stricksocken. Im Zimmer gab es ansonsten nur ein Metallbett, ein Waschbecken mit einem Eimer darunter und einen Tisch. Keine Bücher oder Zeitschriften, nichts Persönliches.
»Wir haben versucht, sie zu beschäftigen, bevor sie sich selbst verletzt hat«, bemerkte Hartung, als hätte er Leos Gedanken gelesen. »Papier und Farbe zum Malen. Lektüre. Sie hat auf nichts reagiert.«
Leo überlegte. Ihm war bewusst, dass sie die junge Frau mit Dingen konfrontieren würden, die – vorausgesetzt, dass sie überhaupt zu ihr durchdrangen – womöglich einen Schock auslösen konnten. Würde der Arzt das dulden?
»Ich muss ihr Fragen stellen. Und Fotos von Personen zeigen. Das lässt sich nicht umgehen.«
Hartungs Blick verdunkelte sich. »Sie ist nicht vernehmungsfähig, das dürfte Ihnen wohl klar sein, Herr Wechsler. Das Wohl meiner Patientin ist oberstes Gebot.«
»Schön. Warum haben Sie mich dann angerufen?« Leo achtete nicht auf Walthers warnenden Blick. »Sie haben sich bei uns gemeldet, was ganz und gar richtig war. Dafür sind wir Ihnen dankbar. Aber wir sind auch auf Ihre weitere Unterstützung angewiesen.« Er hob die Hand, damit ihn der Arzt weitersprechen ließ. »Ich verfüge nicht über Ihr Fachwissen und Ihre Erfahrung. Dennoch frage ich mich, ob man sie nicht mit irgendeinem äußeren Reiz aus ihrer Starre herausreißen könnte. Daher würde ich ihr gern etwas zeigen.«
»Was?«, fragte Hartung misstrauisch.
Walther holte einen Umschlag aus der Tasche, in dem sich jeweils ein Foto von Marlene Dornow und Viktor König befanden, und zeigte sie dem Arzt.
»Das sind die Ermordeten. Dass Johanna Gerber die Frau gekannt hat, wissen wir bereits. Bei dem Mann sind wir uns nicht sicher. Daher würde ich ihr sein Foto gern zuerst zeigen.Sollte sie … ungehalten reagieren, würden wir die Befragung sofort beenden.«
Hartung war sichtlich im Zwiespalt. Leo sah ihn abwartend an, ohne zu drängen, hoffte aber, dass der Arzt sich überzeugen lassen würde.
Schließlich nickte dieser knapp. »Aber nur in meiner Gegenwart. Wenn ich die Befragung nicht länger verantworten kann, brechen wir sofort ab, und Sie verlassen den Raum.«
»Einverstanden.«
»Sie bleiben hinter mir.«
Der Arzt holte einen Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete behutsam die Tür. Die Frau rührte sich nicht. Er ging langsam auf sie zu, bemühte sich aber nicht, leise zu sein. »Johanna, hier ist Besuch für Sie. Die Herren möchten Ihnen nur einige Fragen stellen und Ihnen ein Bild zeigen. Es dauert nicht lange. Wenn Sie müde werden, geben Sie mir ein Zeichen.« Er stellte sich in die Ecke am Fenster, damit die Patientin ihn sehen konnte.
Leo trat vor sie und ging in die Hocke, so dass ihre Köpfe ungefähr auf einer Höhe waren. Kein Zweifel, es war die Frau, die mit Marlen beim Friseur und im Kaufhaus gewesen war. Ihr Gesicht war eingefallen, die Haare waren strähnig, die Augen trüb, doch er konnte Spuren ihrer früheren Schönheit erkennen. Ihre Hände ruhten auf den Oberschenkeln. Der linke Arm war dort verbunden, wo sie sich den Füllfederhalter mit aller Gewalt ins Fleisch gestoßen hatte. Sie schaute auf die Wand hinter seinem Kopf, als wäre er durchsichtig.
»Fräulein Gerber? Mein Name ist Leo Wechsler. Ich bin Polizist.«
Keine Reaktion.
»Ich will Sie nicht lange stören. Aber ich brauche Ihre Hilfe. Das ist sehr wichtig.«
Er holte das Foto von Viktor König aus der Tasche, ohne es ihr zu zeigen.
»Darf ich Sie etwas fragen?«
Er rechnete nicht mit einer Antwort, wollte aber die Regeln der Höflichkeit einhalten.
»Kennen Sie einen Mann namens Viktor König?«
Die Bewegung war so subtil, dass Leo sie beinahe übersehen hätte. Ihre Fingerkuppen bogen sich nach unten und bohrten sich in ihre Oberschenkel.
»Ich habe hier ein Bild von ihm. Würden Sie es sich kurz ansehen und mir sagen, ob Sie den Mann darauf kennen?«
Im Raum war es so leise, dass man die vier Menschen atmen hören konnte. Leo hielt Johanna Gerber das Foto hin.
Es ging schnell. Sehr schnell. Sie sprang auf, warf sich aufs Bett, vergrub den Kopf im Kissen und drückte die Hände auf die Ohren. Ihr ersticktes Geheul ging in ein Schluchzen über.
Dr. Hartung griff rasch in die Kitteltasche, holte
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