Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
nicht wiedergesehen hatten. Schließlich hatte es auch gegolten, Rücksicht auf die Empfindungen anderer zu nehmen.
Er wies auf die Sessel nahe dem Kamin, und beide nahmen Platz. Mit geübter Hand ordnete sie dabei ihre Röcke mit einer einzigen anmutigen Bewegung.
»Du hast vielleicht davon gehört, dass Serafina Montserrat kürzlich gestorben ist?«, begann sie.
»Die Zeit eilt rascher dahin, als man denkt«, sagte er betrübt. »Aber das liegt vielleicht in ihrer Natur – und in unserer, dass wir uns von etwas ganz und gar Voraussagbarem überraschen lassen. Doch vermutlich bist du nicht gekommen, um dich mit mir über das Wesen der Zeit und deren eigentümliche Elastizität zu unterhalten. Ich hoffe, dass ihr Sterben leicht war. Sie war eine bemerkenswerte Frau und hat sich gewiss auch dem Tod voll Tapferkeit gestellt. Es würde mich überraschen, wenn er die Verwegenheit besessen hätte, sie unnötig lange zu belästigen.«
Sie musste unwillkürlich lächeln. Offensichtlich hatte sie vergessen, was sie an ihm so besonders geschätzt hatte.
»Soweit ich weiß, ist sie eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht«, gab sie zur Antwort. »Der Grund meines Kommens liegt darin, dass dieser Schlaf das Ergebnis einer gewaltigen Überdosis Opiumtinktur war.«
Aller Frohsinn verschwand aus seinen Zügen. Er beugte sich ein wenig vor. »Hat man ihr die ohne ihr Wissen eingegeben, oder hat sie sie selbst genommen, weil sie sterben wollte? Letzteres kann ich nur schwer glauben. Sollte es sich so verhalten, muss sie sich bis zur Unkenntlichkeit verändert haben.«
»Das hat sie nicht. Wohl aber war sie zum Schluss verwirrt, hat mitunter vergessen, in welchem Jahr wir leben oder mit wem sie sprach, was in ihr die große Sorge ausgelöst hat, sie könne unabsichtlich vertrauliche Dinge ausplaudern und damit großen Schaden anrichten.« Sie erinnerte sich mit tiefem Schmerz an das Entsetzen auf Serafinas Gesicht. »Das ist offenbar in der Tat geschehen, und daraufhin hat man sie ermordet.«
Er schüttelte den Kopf. »Bist du dir dessen ganz sicher?«
»Ja. Aber nicht deshalb bin ich gekommen. Mir geht es um eins der Geheimnisse, die ihr entschlüpft sind, und um den Schaden, den es jetzt noch anrichten könnte.«
»Und womit könnte ich in diesem Zusammenhang behilflich sein?« Er sah verwirrt drein und schien zugleich durchaus zu begreifen, welchen großen Schaden derlei Dinge anrichten konnten.
»Es geht dabei um eine Affäre, die sie vor vielen Jahren mit dem Vater des gegenwärtigen Lord Tregarron hatte.« Sie hielt inne, als sie die Veränderung seines Gesichts wahrnahm, das sich plötzlich verfinsterte. Unmöglich hätte er bestreiten können, dass er ganz genau wusste, was sie jetzt von ihm erwartete.
»Ich habe keine Möglichkeit, dir etwas zu sagen, was mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut wurde«, gab er zu bedenken. »Und sicher wirst du mich auch nicht darum bitten.«
»Ich stelle fest, dass du durchaus verschlagen sein kannst, Magnus«, sagte sie und deutete dabei ein Lächeln an. »Alles, was dir der alte Tregarron anvertraut hat, mag vertraulich gewesen sein, auch wenn er schon seit vielen Jahren tot ist. Was Serafina dir gesagt hat, mag einer Beichte gleichgekommen sein, obwohl ich das bezweifle. Kann eine lange zurückliegende Affäre, die noch einmal aufzurühren ebenso wenig in deinem wie in meinem Interesse liegt, so wichtig sein, dass wir mit ansehen, ja, zulassen dürfen, wie sie jetzt einen Mann das Leben kostet?«
»Da übertreibst du aber bestimmt«, wandte er ein, doch in seinen Augen lag keine Überzeugung.
Diesmal lächelte sie offen. »Dir ist es nicht gegeben, andere zu täuschen, Magnus. Bei Licht besehen ist es nichts weiter als eine Indiskretion, und noch dazu liegt die Sache lange zurück. Beide daran Beteiligten sind tot, und nicht einmal die Mutter des gegenwärtigen Lord Tregarron dürfte jetzt noch großes Interesse an der Sache haben. Ohnehin bezweifle ich stark, dass sie so unwissend ist, wie ihr Sohn anzunehmen scheint.«
»Was glaubst du denn, das ich dir verschweige, Vespasia?«, fragte er.
»Eine weit hässlichere Wahrheit.«
»Er war verheiratet«, gab er zu bedenken, »und hat das seiner Frau gegebene Gelübde gebrochen.«
»Würdest du ihn dafür aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausschließen?« Fragend hob sie die silbergrauen Brauen.
»Wie kannst du das auch nur denken! Im Übrigen bin ich fest davon überzeugt, dass er den Fehltritt bereut
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