Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
sah von Pitt zu Herzog Alois. »Wahrscheinlich ist es nichts weiter, aber …«
»… kehren Sie in Ihr Abteil zurück, und zeigen Sie sich nicht am Fenster«, beendete Pitt den Satz für ihn in scharfem Ton. Es war ein Befehl.
»Ein Heuwagen?«, fragte Herzog Alois.
Stoker trat einen Schritt näher. »Vielleicht ist es nur ein Unfall, Hoheit, vielleicht aber auch nicht.« Er stand jetzt so nahe bei ihm, dass man glauben konnte, er wolle ihn in sein Abteil zurückschieben.
Der Herzog sah zu Pitt hinüber.
Der Zug kam ruckend zum Stehen.
Einer der Männer des Herzogs, hochgewachsen, schlank und dunkelhaarig wie dieser, eilte durch den Gang herbei.
»Was zum Teufel ist da …«, setzte er an.
Ein Geschoss zerschmetterte die Fensterscheibe. Der Mann taumelte rückwärts gegen die Abteilwand und sank dann zu Boden, wobei sich langsam ein großer roter Fleck auf seiner Brust ausbreitete.
Stoker sprang auf den Herzog zu und riss ihn zu Boden. Einer der anderen Männer kniete sich neben den Getroffenen, doch Pitt brauchte nicht noch einmal hinzusehen, um zu wissen, dass für ihn jede Hilfe zu spät kam. Er wandte sich um und rannte durch den Gang zum Ende des Waggons, riss die Tür zur anderen Seite auf und sprang auf den Schotter des Gleisbetts, die Hand bereits an seiner Pistole. Wenn er auf der Seite des Schützen ausgestiegen wäre, womit dieser wohl gerechnet haben mochte, hätte er ihm ein glänzendes Ziel geboten. So gab ihm der Zug zwar Deckung, doch bedeutete das zugleich, dass er mindestens eine ganze Waggonlänge weiterlaufen musste, um den Attentäter zu Gesicht zu bekommen.
Ob dieser noch einmal schießen wollte? Oder war er sicher, dass er den Herzog getroffen hatte, und würde sich zur Flucht wenden?
Es hatte keinen Sinn, dass sich Pitt verwünschte, weil er diese Form eines Anschlags nicht vorausgesehen hatte, doch war er sicher, dass er das später noch tun würde. Wer mochte dahinterstecken? Etwa Tregarron? Oder ein Angehöriger einer der österreichischen Gruppen, die er von Anfang an verdächtigt hatte? Falls es Tregarron war, würde er wohl allein sein. Sofern es sich aber um den Anschlag von Sozialisten oder Angehörigen einer der nationalen Minderheiten handelte, die auf diese Weise gegen die Herrschaft der Habsburger aufbegehrten, konnten sich ohne Weiteres ein halbes Dutzend Leute auf der anderen Seite des Zuges befinden. Hoffentlich war Stoker nicht ebenfalls hinausgerannt und versuchte jetzt im Schutz der Waggons den Mörder zu fassen, sondern in der Nähe des Herzogs geblieben, um ihn zu schützen. Immerhin war er möglicherweise nach wie vor äußerst gefährdet.
Dort angekommen, wo die Waggons aneinandergekoppelt waren, ließ sich Pitt auf Hände und Knie nieder, um durch die Lücke zu spähen. Auf der anderen Seite sah er lediglich einen schmalen Streifen Waldsaum. Ob der Schütze dort im Schatten der Bäume lauerte, bereit, auf jeden anzulegen, der sich zeigte? Ein zweiter Schuss war bisher nicht gefallen. Wartete er ab, um zu sehen, was geschah, oder hatte er sich bereits davongemacht, weil er damit rechnete, verfolgt zu werden?
Vermutlich war ihm klar, dass er jemanden getroffen hatte, doch konnte er keinesfalls sicher sein, dass es der Herzog war. Auf jeden Fall musste er damit rechnen, dass sich jemand an seine Verfolgung machen würde, sei es ein Brite oder ein Österreicher, wenn nicht beide. Würde er sich bis an eine Stelle zurückziehen, von der aus er den Zug sehen konnte, ohne dass es eine Möglichkeit gab, ihn dort zu umzingeln? Vielleicht war er jemand vom Lande und nicht jemand, der sein Leben in der Stadt verbracht hatte, denn immerhin hatte er sich für seinen Angriff ein Waldgebiet ausgesucht und einen Heuwagen benutzt, um den Zug zum Halten zu zwingen. Auf jeden Fall schien er ein treffsicherer Schütze zu sein, möglicherweise jemand, der regelmäßig auf die Jagd ging.
Auch Pitt war auf dem Lande aufgewachsen. Er hatte Sir Arthur Desmond bei der Fasanenjagd und ein- oder zweimal bei der Rotwildjagd begleitet. Daher verstand er es, sich gegen den Wind anzuschleichen, sich geduckt anzupirschen und sich so gut wie geräuschlos zu bewegen. Allerdings hatte er nur eine Pistole, während der andere ein Gewehr benutzt hatte, womöglich sogar noch mit Zielfernrohr, wenn man bedachte, mit welcher Genauigkeit er sein Ziel gefunden hatte. Um ihn zu fassen, würde Pitt mit größter Umsicht zu Werke gehen müssen.
Vorsichtshalber lief er auch noch den nächsten Waggon
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