Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
vorziehe, wenn alle Welt annimmt, mein ausschließliches Interesse gelte der Naturwissenschaft und Philosophie und ich beschäftigte mich lieber mit geistigen Steckenpferden als mit Dingen, die von praktischem Nutzen sind. Das verschafft mir eine beträchtliche Bewegungsfreiheit. Jeder, der mit Ihnen zu tun hat, weiß genau, wer Sie sind. Das hat sicher auch seine Vorzüge, aber unsere Systeme unterscheiden sich nun einmal voneinander. Bedauerlicherweise befindet sich unser Reich im Stadium des Niedergangs, und wir haben kein Parlament, das unserem Kaiser so auf die Finger sieht wie das hiesige Ihrer Königin. Vielleicht sollte ich besser Kaiserin sagen, denn sie herrscht ja, soweit ich weiß, auch über das Kaiserreich Indien.«
»Welchen Sinn würde es haben, Tregarron im Interesse unserer beider Länder einzusetzen?«, fragte Pitt. Er hatte keine Vorstellung davon, ob der Herzog auch etwas über Blantyre wusste, gedachte ihm aber auf keinen Fall etwas über den Mann zu sagen.
Alois zuckte leicht die Achseln. »Ich stehe dem ›Staatsschutz‹ meines Landes vor, so wie Sie dem des Ihren. Ich tue, was ich im Interesse Österreichs für das Beste halte. Das ist nicht unbedingt immer das, was unsere Regierung tun würde. Ich weiß aber auch Dinge, die ihr nicht bekannt sind, und vielleicht verfüge ich über etwas mehr Weitblick. Ich bin sicher, dass Sie sich gelegentlich in einer ähnlichen Lage befinden. Es würde mir nützen, wenn mich Lord Tregarrons Informationen erreichten.«
»Tun sie das nicht ohnehin?«, fragte Pitt.
»Leider nicht. Sie laufen über Mr. Blantyre. Ihm ist der Verrat durch Tregarrons Vater ebenso bekannt wie dessen ehebrecherische Beziehung zu Mrs. Montserrat, die das Ganze ausgelöst hat. Der gegenwärtige Lord Tregarron legt großen Wert darauf, dass seine Mutter, die noch lebt und geistig sehr wach ist, nichts davon erfährt.«
»Ich nehme an, dass sie seinerzeit auf dem Laufenden war«, bemerkte Pitt.
»Was die Affäre angeht, wahrscheinlich«, räumte der Herzog ein. »Doch die Sache mit dem Landesverrat ist etwas völlig anderes. Woher wussten Sie überhaupt davon, wenn ich fragen darf?«
»Ich habe mir das sozusagen ausgerechnet«, gab Pitt zur Antwort.
Der Herzog wartete und hielt seine leuchtend blauen Augen unverwandt auf Pitt gerichtet.
»Es war die einzige Lösung, die zu gewissen anderen Informationen passte«, teilte ihm dieser mit. Dann lächelte er, um zu zeigen, dass er mehr zu dem Thema nicht zu sagen gedachte.
»Ich verstehe. Schade. Aber ich hatte einfach keine Gelegenheit, Ihnen früher Mitteilung von diesem Sachverhalt zu machen. Ich möchte verhindern, dass das einem größeren Kreis bekannt wird, denn dann wäre aller mögliche Nutzen dahin.« Er machte eine leicht bedauernde Gebärde, wich aber Pitts Blick nicht aus und ließ die Sache auf sich beruhen.
Pitt hatte den Wunsch, alle Eventualitäten abzuwägen und die Sache mit Narraway zu besprechen, doch war ihm bewusst, dass selbiges unmöglich war. Er versuchte an vergleichbare Abmachungen in der Vergangenheit zu denken, konnte sich aber an keine erinnern. Falls es je dergleichen gegeben hatte, waren sie nicht in den Akten der Abteilung festgehalten worden. Andererseits war ihm klar, dass auch er nichts schriftlich niederlegen lassen würde, falls er das Angebot des Herzogs annahm, zumindest keine Akte, in die jeder beliebige Mitarbeiter des Staatsschutzes Einblick hatte. Er musste sich in den nächsten Minuten entscheiden. Würde er, sofern er sich einverstanden erklärte, dem Herzog etwas in die Hand geben, was dieser gegen ihn verwenden konnte? Oder wäre das in der Tat ein Abkommen zu beiderseitigem Nutzen, mit dem er sich die Möglichkeit erkaufte, bei passender Gelegenheit einen Gefallen einzufordern? Oder galt bei solchen Vereinbarungen der Grundsatz der Gegenseitigkeit nicht?
Der Herzog wartete.
Pitt würde entscheiden müssen, welche falschen Informationen Tregarron zugespielt werden sollten. Wäre es tollkühn von ihm, das Angebot anzunehmen? Oder wäre es feige, das nicht zu tun?
»Wir können darüber reden«, sagte er. »Allerdings ist Tregarron kein Dummkopf, auch wenn er sich in einer äußerst unangenehmen Lage befindet.«
Der Herzog reagierte darauf mit einem schiefen Lächeln des Bedauerns, in dem eine Spur Mitleid liegen mochte. »Mir ist klar, wie Sie das meinen, und Sie haben damit natürlich recht. Ausgezeichnet. Es kann uns beiden zum Vorteil gereichen, wenn wir mit Umsicht zu
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