Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
diese Ehrlichkeit nach dem Schlamassel mit Gower zugrunde gehen würden. Aber, mein Gott, Narraway, eine gewisse Kultiviertheit ist doch auch erforderlich! Wir brauchen einen Mann mit Weitblick, jemanden, der die Fähigkeit besitzt, den Besten unserer Gegner ein Schnippchen zu schlagen, und nicht nur einem auf frischer Tat Ertappten oder einem Fanatiker mit einer Stange Dynamit in der Tasche die Hand auf die Schulter zu legen, um ihn festzunehmen.«
»Ich denke, es ist einer von Pitts größten Vorzügen, dass ihn Leute unterschätzen, die sich für wer weiß wie klug halten«, gab Narraway zur Antwort.
Tregarron hob die Brauen und fragte belustigt: »Soll ich darin eine mir gebührende Zurechtweisung sehen?«
Vergnügt lächelnd erwiderte Narraway: »Nur, wenn Sie das Bedürfnis danach haben. Ich vertraue ihm voll und ganz, und das dürfen auch Sie tun.«
Als er eine halbe Stunde später in den kalten Regen hinaustrat, war er sich seiner Sache keineswegs so sicher, wie er sich Tregarron gegenüber gegeben hatte. Würde Pitts tief in seinem Wesen verwurzelter Anstand verhindern, dass er die Tücke anderer erkannte?
Pitt war als Sohn eines Bediensteten zur Welt gekommen und hatte seine ganze Kindheit hindurch in tiefer Achtung vor dem Gutsherrn Sir Arthur Desmond gelebt, einem Mann von untadeligem Ehrgefühl und beträchtlicher Güte. Nahm er womöglich deshalb – ihm selbst unbewusst – an, dass sich andere vermögende und hochstehende Persönlichkeiten grundsätzlich ähnlich verhielten wie jener Ehrenmann?
Wie würde er mit der Enttäuschung fertigwerden, wenn er erst einmal erkannte, dass sich das in vielen Fällen keineswegs so verhielt?
Dann fiel Narraway der Mordfall im Buckingham-Palast ein, und er kam zu dem Ergebnis, dass seine Besorgnis höchstwahrscheinlich unbegründet war. Mit großen Schritten strebte er der Baker Street entgegen, da er sicher war, dort eine Droschke zu finden, die ihn nach Hause bringen würde.
KAPITEL 3
Im Büro herrschte behagliche Wärme. Sobald das Feuer im Kamin niederzubrennen drohte, legte Pitt frische Kohlen nach. Mit Hagel durchsetzter Regen prasselte gegen die Fensterscheiben. Dichte graue Wolken zogen rasch über den Himmel, bis der Wind sie auseinandertrieb. Unten auf der Straße durchnässten die Sprühfontänen vorüberkommender Fahrzeuge nahe am Rand des Bürgersteigs gehende unachtsame Fußgänger.
Nachdenklich betrachtete Pitt den Stapel von Papieren auf seinem Schreibtisch. Tag für Tag warteten dort die gleichen Routineberichte auf ihn, doch wenn er sie nicht las, würde ihm möglicherweise eine winzige Abweichung entgehen, eine Auslassung oder ein Querverweis, der eine Veränderung anzeigen konnte, eine Verbindung, die zuvor niemand gesehen hatte. Manche Muster, die sich nur mit größter Sorgfalt entdecken ließen, waren unter Umständen der einzige Hinweis auf einen bevorstehenden Verrat oder Angriff.
Ein nachdrückliches Klopfen an der Tür riss ihn aus seiner Versunkenheit, und er legte zögernd das Blatt hin, mit dem der sich gerade beschäftigt hatte.
»Herein«, sagte er.
Die Tür öffnete sich, sein Mitarbeiter Stoker trat ein und schloss sie leise hinter sich. Die Gesichtszüge des Mannes waren so undurchdringlich wie immer, aber Pitt hatte im Laufe der Zeit gelernt zu erkennen, ob Stoker erregt oder angespannt war, indem er auf dessen Körperhaltung und auf die Art achtete, wie er sich bewegte. In diesem Augenblick erschien er ihm aufmerksam und ein wenig besorgt.
»Was gibt es?«, fragte er und wies auf den Stuhl seinem Schreibtisch gegenüber.
Gehorsam nahm Stoker Platz. »Vielleicht nichts«, gab er zurück. »Es geht nur um ein paar Fragen.«
»In dem Fall wären Sie nicht gekommen«, hielt Pitt dagegen. Er vertraute dem Instinkt des Mannes, der als Einziger zu Narraway gehalten hatte, als man diesen der Unterschlagung des für den irischen Mittelsmann Mulhare bestimmten Geldes bezichtigt und damit letztlich auch für dessen Tod von irischer Hand verantwortlich gemacht hatte. Alle anderen in der Dienststelle und darüber hinaus hatten den gefälschten Beweisen gegen Narraway Glauben geschenkt. Stoker allein hatte den Mut aufgebracht, nicht nur seine Anstellung und seine mögliche Karriere aufs Spiel zu setzen, sondern auch sein Leben, als er insgeheim mit Pitt gegen jene vorgegangen war, die heimtückisch und korrupt die Macht im Staatsschutz an sich gerissen hatten. Überdies hatte er Pitt im verzweifelten Kampf in der Endphase das
Weitere Kostenlose Bücher