Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
möglicherweise alles verloren.
Ganz wie er zu Stoker gesagt hatte, versuchte er als Erstes festzustellen, auf welche Persönlichkeiten Anarchisten möglicherweise einen Anschlag planen konnten. Sofern es sich in der Tat um jemanden handelte, der der königlichen Familie einen Besuch abzustatten gedachte, empfahl es sich, mit den Nachforschungen bei dem für Mittel- und Osteuropa zuständigen Staatssekretär im Außenministerium zu beginnen. Falls ihm dieser nichts sagen konnte, musste er sein Netz weiter auswerfen.
So kam es, dass er sich schon kurz nach halb zwei im Vorzimmer von Lord Tregarrons Amtsräumen befand.
Er war immer noch ein wenig befangen, wenn er sich als Leiter des Staatsschutzes vorstellen musste, tat es aber dennoch, weil man ihn sonst nicht vorgelassen hätte. Sollte sich herausstellen, dass etwas an der Sache war, die ihm Stoker berichtet hatte, musste die Angelegenheit mit höchstem Nachdruck betrieben werden. Ein Attentat auf einen ausländischen Würdenträger auf englischem Boden würde die Regierung des Landes in die größte Verlegenheit stürzen, ganz gleich, wer das Opfer war.
Ein elegant gekleideter junger Mann, vermutlich ein Sekretär, empfing ihn höflich, und bat ihn, in einem ausgesprochen behaglich eingerichteten Raum mit braunen Ledersesseln Platz zu nehmen und zu warten. Im Kamin brannte ein munteres Feuer, und auf dem Tisch lagen Zeitungen und Vierteljahresschriften. Der junge Mann bot ihm sogar Whisky an. Pitt lehnte dankend ab, was der Mann von vornherein vermutet zu haben schien, denn er hatte keinen Schritt in Richtung der Anrichte mit den Flaschen getan.
»Wie Sie wünschen, Sir«, sagte er. »Man wird Sie nicht länger warten lassen als nötig.«
Zehn Minuten später kam weder der Sekretär herein noch Lord Tregarron, sondern der Unterhausabgeordnete Jack Radley, der in schwarzem Jackett und gestreifter Hose ungewöhnlich elegant aussah. Er kam Pitt ein wenig befangen vor, als er ihn mit einem angedeuteten Lächeln begrüßte: »Guten Tag, Thomas. Ich nehme an, dass die Angelegenheit für dich wichtig ist, wenn du dich persönlich herbemüht hast. Darf ich Lord Tregarron sagen, worum es geht?«
Pitt war ein wenig bestürzt. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er die Sache einem Dritten vortragen müsste, auch wenn es sich dabei um seinen Schwager handelte. Allerdings war er noch nie bei Tregarron gewesen und hätte das vielleicht vorhersehen müssen.
»Ich muss dringend wissen, ob Angehörige der königlichen Familie im Laufe der nächsten ein, zwei Monate ausländischen Besuch erwarten«, gab er ein wenig steif zur Antwort.
Jacks Augen weiteten sich. Neugierig, aber ohne den geringsten Anflug von Besorgnis in der Stimme, fragte er: »Geht es um eine bestimmte Person?«
»Genau das weiß ich nicht. Ich bin gekommen, um das festzustellen. Es kann sich sowohl um einen offiziellen als auch um einen privaten Anlass handeln.«
»Besteht Anlass zur Sorge um die Sicherheit Ihrer Majestät?« Jetzt sah Jack etwas besorgter drein. »Gewöhnlich behelligt der Staatsschutz Lord Tregarron nicht mit derlei Dingen.«
»Nicht, soweit mir bekannt ist«, gab Pitt ziemlich kühl zur Antwort. Er hatte den unausgesprochenen Vorwurf verstanden, dass er sowohl Lord Tregarrons als auch Jacks Zeit vergeude. »Meinen Informationen zufolge besteht unter Umständen Gefahr für den Besucher, doch könnte die Sache trotzdem äußerst unangenehm für unsere Regierung werden. Ich muss so bald wie möglich mit Lord Tregarron sprechen.«
Jack nickte. »Ich sage es ihm.« Er wandte sich um, ging hinaus und zog die Tür nicht ganz geräuschlos hinter sich zu.
Ungeduldig schritt Pitt auf dem Orientteppich auf und ab, bis Jack mehrere Minuten später zurückkehrte. Pitt ging auf die Tür zu, doch statt sie ihm aufzuhalten, damit sie beide hindurchgehen konnten, schloss Jack sie nachdrücklich hinter sich und blieb, die Hand auf der Klinke, davor stehen.
»Kannst du es nicht etwas genauer sagen?«, fragte er, wobei er ein wenig unglücklich wirkte. »Was veranlasst dich zu der Annahme, es könnte eine Bedrohung geben? Wenn ich dich richtig verstanden habe, kann sie aus einer beliebigen Richtung kommen. Aber wen verdächtigst du und wessen? Falls ich Lord Tregarron solche Angaben überbringen kann, sieht er vielleicht eine Möglichkeit, dir zu helfen.«
Pitt ließ sich nicht leicht aus der Fassung bringen. Die im Polizeidienst verbrachten Jahre hatten ihn nicht nur Geduld gelehrt, sondern ihm
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