Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
Königshauses besuchen. Ein oder zwei Politiker, aber niemand, der besonders wichtig wäre: ein Franzose und ein Amerikaner. Ich wüsste nicht, was jemand davon hätte, so jemanden ausgerechnet hier umzubringen. Das wär bei denen zu Hause bestimmt viel leichter. Ach ja, und ein österreichischer Herzog, den hier kein Mensch kennt und der keinerlei Ämter bekleidet. Er heißt Alois. Auch ihn könnten die Täter viel einfacher in Wien aus dem Weg räumen. Da wäre es für sie ein Kinderspiel zu entkommen, denn ganz Europa steht ihnen offen. Auf unserer Insel fällt ein Ausländer leicht auf, außer wenn er sich unter den Einwanderern in London versteckt. Aber warum sollte sich jemand so viel Mühe machen? Es ergibt einfach keinen Sinn.«
»Dann will man wohl unsere Aufmerksamkeit von etwas anderem ablenken«, entschied Pitt. »Von einer größeren und sehr viel wichtigeren Sache.«
Stoker nickte. Seine Kiefer mahlten. »Wichtiger, als dass man hier direkt vor unserer Nase einen ausländischen Grafen oder Herzog abmurkst?«
»Nun, sofern das Ganze ein Ablenkungsmanöver ist, muss es sich um so jemanden handeln«, sagte Pitt finster. »Man kann ja unsere Aufmerksamkeit nicht gut mit irgendwelchen unbedeutenden Kinkerlitzchen erregen. Halten Sie weiterhin die Augen offen, und teilen Sie mir mit, was Sie in Erfahrung bringen.«
Stoker stand auf. »Ja, Sir. Vielleicht soll das ja auch nur so was wie ein Probelauf sein, mit dem die Leute rauskriegen wollen, ob wir merken, was sie vorhaben?«
»Das hatte ich auch schon überlegt«, gab ihm Pitt recht. »Versuchen Sie unauffällig, so viel Sie können herauszubekommen.«
Als Stoker gegangen war, lehnte sich Pitt auf seinem Stuhl zurück und dachte über die Sache nach. So mancher Fall in der Vergangenheit hatte als Gerücht begonnen, als etwas, was ursprünglich unbedeutend erschienen war, nicht so recht zu anderen Dingen passte, ein Bündnis, das von den üblichen Zusammenschlüssen abwich. Über die Jahre hatte Narraway Erfahrung darin gewonnen, ungewöhnliche Vorgänge zu erkennen, die einen ersten Hinweis auf eine neue Verschwörung oder einen geplanten Angriff lieferten.
Vor seinem Eintritt in den Staatsschutz, in seiner Zeit als Leiter der Polizeiwache in der Bow Street, war Pitt zu einem Fall gerufen worden, nachdem die Tat geschehen war. Dann hatte er die Sache von hinten nach vorn aufgerollt, um sie aufzuklären, die Hintergründe zu erkennen und Beweise für die Schuld des Täters oder der Täter zu finden, die vor Gericht verwertbar waren. Unter Narraways Anleitung hatte er von Grund auf lernen müssen, Ereignisse vor seinem inneren Auge zu sehen, bevor es dazu kam, um sie verhindern zu können.
War denen, die ihn an dessen Stelle gesetzt hatten, überhaupt bewusst gewesen, welche Fähigkeiten für diese Aufgabe erforderlich waren? Hatten sie ihn falsch eingeschätzt, weil sie Narraways Erfolge gesehen und gewusst hatten, dass Pitt in der jüngsten Zeit zu den meisten davon beigetragen hatte? Konnten sie wirklich so einfältig gewesen sein?
Das unbehagliche Gefühl in seiner Magengrube sagte ihm, dass möglicherweise genau das der Fall war.
Er wusste nur allzu genau, dass seine eigene Urteilsfähigkeit bisweilen ausgesprochen unzulänglich gewesen war. Er hatte Narraway in der Geschichte um Mulhare nicht etwa aufgrund logischer Gedankengänge für schuldlos gehalten, sondern ausschließlich aus persönlicher Verbundenheit.
Er dachte daran, dass Narraway vor langer Zeit Jahre in Irland verbracht hatte, an die Tragödien, zu denen es dort gekommen war, und die Kompromisse, die er hatte schließen müssen. Um keinen Preis hätte Pitt je etwas von dem getan, was sich Narraway dort hatte moralisch zuschulden kommen lassen – nicht etwa aus Vernunftgründen, sondern weil ihm das wesensfremd war. Er war in jeder Hinsicht voraussagbar, der erfahrene alte Fuchs Narraway hingegen unendlich gerissener als er und damit gänzlich unberechenbar, wenn es darauf ankam. Doch trotz aller Erfahrung und all seiner Fähigkeiten war Narraway einer persönlichen Katastrophe im vergangenen Jahr nur um ein Haar entgangen.
Blies man jetzt womöglich zur Jagd auf den ganzen Staatsschutz? Steckte das dahinter? Sah jemand eine Möglichkeit, dieser Dienststelle Versagen vorzuwerfen, um sie mit einem Federstrich abschaffen zu können? Auch in Regierungskreisen gab es durchaus Menschen, die dem Staatsschutz übel wollten, und wenn sich Pitt einen groben Schnitzer leistete, war
Weitere Kostenlose Bücher